Werden Osteuropäer EU-Bürger zweiter Klasse auf Zeit?
Die EU und Deutschland müssen die Beitrittsstrategie verändern. Von Sylvia-Yvonne Kaufmann, Helmuth Markov und André Brie – Leicht gekürzt erschienen in: „Neues Deutschland“, 21./22. April 2001
Kurz vor Ostern legte EU-Kommissar Günter Verheugen den Menschen Ost- und Mitteleuropas ein wahrlich faules Ei ins Nest.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den EU-Kandidatenländern sollen einem Vorschlag der EU-Kommission zufolge spätestens
erst sieben Jahre nach dem EU-Beitritt ihrer Länder freien Zugang zu den Arbeitsmärkten der Union erhalten. Generell soll eine
Übergangsfrist von fünf Jahren gelten, die bis zu zwei Jahren verlängert werden kann. Die fünfjährige Frist soll zugleich zwei Jahre nach
ihrem Beginn überprüft werden, um sie möglicherweise nach jeweiligem Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten zu verkürzen. Für die
Beitrittskandidaten Zypern und Malta soll die Arbeitnehmerfreizügigkeit allerdings sofort gewährt werden. Die Kommission folgt damit
Bundeskanzler Gerhard Schröder, der besonders vehement siebenjährige Übergangsfristen bei der Freizügigkeit von
Arbeitnehmer/innen aus Polen, Litauen oder Ungarn gefordert hatte. Das „flexible“ Modell der Kommission könnte zur Folge haben,
dass zum Beispiel Deutschland die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Osteuropäer sieben Jahre lang nicht gewährt, während Portugal sie
nur für zwei Jahre ausschließt.
Der neue Vorschlag zur Arbeitnehmerfreizügigkeit bildet den bislang krönenden Abschluss einer insgesamt zynischen Strategie zur
EU-Osterweiterung. Den ost- und mittelosteuropäischen Beitrittsstaaten wird ein Beitritt zweiter Klasse angedient. Bereits mit der
Agenda 2000 wurde deutlich, dass die EU völlig unzureichende Mittel bereitstellen will, um einen umwelt- und sozialverträglichen
Strukturwandel in Osteuropa zu fördern. Die geforderte Übernahme des geltenden Gemeinschaftsrechts in der Agrar-, Wirtschafts-,
Haushalts- und Wettbewerbspolitik wird einen Strukturwandel forcieren, der mit massiven Arbeitsplatzverlusten in der Landwirtschaft,
bei Kohle, Stahl und Werften verbunden ist. Mit den Folgen dieses Anpassungsprozesses sollen die Osteuropäer alleine fertig werden.
Die Tür in die EU der 15 soll für ihre Arbeitnehmer/innen bis zu sieben Jahren verschlossen werden können. Die Ungleichbehandlung
gegenüber den südeuropäischen Beitrittskandidaten springt ins Auge.
Welche Strategie für die Osterweiterung?
Wir plädieren für einen deutlichen Kurswechsel in der Erweiterungsstrategie. Statt ein marktradikales Programm in Osteuropa
fortzusetzen, muss die EU Bedingungen schaffen, einen sozial- und umweltverträglichen Strukturwandel in den Beitrittsstaaten zu
fördern, umweltverträgliche Ersatzarbeitsplätze in neuen Sektoren gegenüber den schrumpfenden Altindustrien zu schaffen und
adäquate soziale Standards zu gewährleisten. Es ist doch beispielsweise absurd, von den Osteuropäern zu verlangen, jene
gemeinschaftliche Agrarpolitik bei sich vollständig umzusetzen, die bei uns angesichts von BSE- und MKS-Krisen zu Recht grundlegend
hinterfragt wird. Ein Umschwenken der EU auf naturnahe und ökologische Landwirtschaft würde auch den Beitrittsstaaten helfen, die
bei der Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands erwarteten Beschäftigungsverluste in der Landwirtschaft deutlich zu
begrenzen. Der ökologische Landbau erfordert bekanntlich zwischen 11 und 30 Prozent mehr Beschäftigte als der konventionelle
Anbau.
In den nächsten zehn Jahren muss die EU ihren Haushalt deutlich erhöhen, um gezielte Aufbaumaßnahmen in der Industrie-, Struktur-
und Regionalpolitik auch in den Beitrittsstaaten zu ermöglichen. Der Strukturwandel in Osteuropa muss zum Neuaufbau von
Arbeitsplätzen im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung hingelenkt werden, damit die osteuropäischen Regionen qualifizierte junge
Arbeitskräfte halten, nachhaltige Infrastrukturen aufbauen und ihr eigenständiges wirtschaftliches Potenzial entfalten können.
Übergangsfristen in den Bereichen der Wettbewerbs-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik sowie bei den Konvergenzkriterien für die
Währungsunion könnten den osteuropäischen Staaten helfen, den nötigen Strukturwandel beschäftigungsintensiver und
umweltverträglich zu gestalten. Die Umsetzung des sozialpolitischen acquis communitaire muss in den Beitrittsverhandlungen
hingegen Vorrang erhalten. Nur so lässt sich verhindern, dass die Osterweiterung zu einem umfassenden Sozialdumping führt,
welches dann auch für die gegenwärtigen Mitgliedstaaten fatale Konsequenzen hätte.
1. Aufbau Ost und Sonderaktionsprogramm für die Grenzregionen
Die strukturschwachen ostdeutschen Bundesländer sind von der EU-Osterweiterung in besonderem Maße betroffen. Es gilt, den
Abwärtstrend Ostdeutschlands zu stoppen, wenn die Menschen in dieser Region nicht erneut zu den Hauptleidtragenden eines
erweiterungsbedingten Strukturwandels werden sollen. Wir fordern gerade jetzt ein neues Aufbauprogramm Ost im Sinne des
Rostocker Manifests der PDS, um Ostdeutschland für die Erweiterung fit zu machen und die Voraussetzungen für eine
grenzüberschreitende Kooperation mit den osteuropäischen Nachbarregionen zu schaffen.
Die Übergangszeit bis zu den ersten Beitritten (wahrscheinlich) im Jahr 2004 hat im Grunde schon begonnen. Bereits jetzt besteht ein
hoher Handlungsbedarf, denn der Druck auf die Grenzregionen wird sich speziell im Osten Deutschlands mit seiner sehr hohen
Arbeitslosigkeit durch das Aufeinandertreffen mit gleichfalls strukturschwächeren Regionen verstärken, da sehr unterschiedliche
Lebenshaltungskosten, Sozialstandards und -abgaben bestehen. Nötig ist ein Sonderaktionsprogramm sowohl für die Grenzregionen
in Ostdeutschland und Bayern als auch für Polen, Tschechien etc. mit einem ganzheitlichen Ansatz, das flächendeckende
Globalzuschüsse zur Umsetzung integrativer operationeller Programme der Struktur- und Regionalförderung in den betroffenen
Grenzregionen bereitstellt. Dies beinhaltet eine globale Gemeinschaftsfinanzierung, die über die in den Bestimmungen der
Strukturfonds (EFRE, ESF, EAGFL) und ihre Zielgebietsdefinitionen hinausgeht. Die Mittel müssen in den Grenzregionen auch
außerhalb des enger definierten geografischen Einsatzbereiches der Fonds eingesetzt werden können.
Auf EU-Ebene müssten analog der Verordnung für ultraperiphere Regionen die geforderten Eigenanteile zur Kofinanzierung für Mittel
des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) ebenso verringert werden wie diejenigen des Europäischen Sozialfonds
(ESF). Die grenzüberschreitenden EU-Programme Interreg III und Phare gehören dringend vereinfacht. Auch hier ist ein erhöhter
zielgerichteter Mitteleinsatz erforderlich, um grenzüberschreitende Aktivitäten besonders zu fördern. Für die kleinen und mittleren
Unternehmen bedarf es spezieller betrieblicher Anpassungshilfen durch eine Lockerung der beihilferechtlichen Regelungen. Auf der
Ebene der Mitgliedstaaten könnte die Bundesregierung beispielsweise Sonderabschreibungen bei Investitionen in Grenzlandregionen
einführen oder bundesweit die Mehrwertsteuer für Dienstleistungen absenken, damit kleine und mittlere Betriebe mit billigeren
Konkurrenten eher mithalten können. Es gibt ferner eine hohe Verantwortung der Bundesregierung, den interkulturellen Austausch viel
stärker zu fördern. Das hieße, sich gezielt für eine EU-Förderung von Kultur- und Bildungsprojekten in den Regionen einzusetzen.
Die Zusammenarbeit kann auf den bereits bestehenden Euregio-Strukturen aufbauen. Regionale Entwicklungspläne für die Euregios
können von gemeinschaftlichen Regionalkonferenzen aufgestellt und ihre Umsetzung überwacht werden. Dabei sollten jedoch nicht nur
die traditionellen Akteure wie Verwaltungen, politische Mandatsträger, Wirtschaftskammern und Gewerkschaften einbezogen werden,
sondern darüber hinaus ein breiteres Spektrum zivilgesellschaftlicher Akteure wie Umweltverbände, Sozial- und
Erwerbsloseninitiativen, Frauenprojekte, Wohlfahrtsverbände. Die Integration und gemeinschaftliche Entwicklung der Grenzräume kann
so durch themenspezifische grenzübergreifende Kooperationsnetzwerke gefördert und operationalisiert werden. Bezüglich der Pendler
in den Grenzregionen sollten bereits vor dem Beitritt flexible Quotenregelungen für ausgewählte Problembranchen verbunden mit einem
begleitenden Monitoringsystem in den Euregios vereinbart werden mit dem Ziel, bis zum Beitritt durch eine schrittweise Öffnung der
Pendlerkontingente die Bedingungen für eine vollständige Freizügigkeit der Pendler zu schaffen.
2.
3. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit
Freizügigkeit von Arbeitnehmer/innen ist eine der wichtigsten Grundfreiheiten, denen sich die Union seit Jahrzehnten verpflichtet fühlt.
Artikel 39 des EG-Vertrages schreibt fest: “ Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet. Sie umfasst
die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in
bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.“ Vor wenigen Wochen, auf dem Gipfeltreffen in Nizza, haben
die EU-Staats- und Regierungschefs mit der feierlichen Proklamation der Grundrechte-Charta der Europäischen Union auch das in
Artikel 15 (2) der Charta fixierte individuelle Freiheitsrecht jeder Unionsbürgerin und jedes Unionsbürgers anerkannt, „in jedem
Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen.“
Bemerkenswert ist, dass Erweiterungskommissar Verheugen für Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit plädiert, obwohl
seiner Meinung nach „ernsthafte Störungen des Arbeitsmarktes durch Zuwanderung nach einer Erweiterung der EU eher
unwahrscheinlich sind.“ Dies ist auch das Fazit der meisten Studien zur Zuwanderung im Rahmen der Osterweiterung. Demnach kann
Deutschland mit einer Zuwanderung von jährlich rund 220 000 Personen aus den 10 osteuropäischen Beitrittsstaaten rechnen, die
jedoch im Verlauf von 15 Jahren schrittweise deutlich abnimmt (2005: 162 000; 2010: 95 500). Nur 35 Prozent der Zuwandernden wären
dabei Arbeitnehmer/innen. Da nicht alle 10 Kandidatenstaaten der EU gemeinsam beitreten, ist das Zuwanderungspotenzial bei den
ersten Beitritten zudem deutlich geringer.
Alle ernstzunehmenden Fachleute meinen völlig zu Recht, mit Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird kein einziges
soziales oder ökonomisches Problem gelöst, sondern im Grunde nur vertagt. Eine neue Studie der UNO geht davon aus, dass die EU
zwischen 2005 und 2010 eine jährliche „Netto-Migration“ von 550.000 Arbeitskräften braucht. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung hat sogar eine Nettozuwanderung von jährlich 800 000 Personen im Zeitraum 2020 bis 2040 nach Deutschland
erwogen, um die Einwohnerzahl in der Bundesrepublik in etwa konstant zu halten. Moderate Schätzungen gehen von einer nötigen
Nettozuwanderung von jährlich 300 000 Menschen aus. Das Zuwanderungspotenzial der Osterweiterung hält sich durchaus in diesem
Rahmen. Für die EU und für Deutschland insgesamt gibt es somit keine triftige Begründung, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die
osteuropäischen Beitrittsstaaten mit generellen Übergangsfristen zu beschränken.
Schockartige Veränderungen auf den Arbeitsmärkten der Grenzregionen vorwiegend durch Zunahme der Grenzpendler in einem
Einzugsbereich von etwa 150 Kilometern bilden den einzigen realen Problembereich bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Hier sind
differenzierte regionale Lösungen gefragt. So könnten die Bundesländer mit ihren jeweiligen Kooperationspartnern auf der
osteuropäischen Seite (zum Beispiel Zachodniopomorskie, Lubuskie, Dolnoslaskie in Polen, Seerozapad, Jihozapad usw. in
Tschechien) Sicherungsklauseln mit arbeitsmarktpolitischen Schwellwerten für bestimmte Branchen vereinbaren. Bis zum Erreichen
der entsprechenden Schwellwerte würden Arbeitserlaubnisse automatisch erteilt. Ist eine Überschreitung in Sicht, müssten die
jeweiligen Kooperationspartner in Verhandlungen eintreten, wie sie durch gemeinsame Anstrengungen und gegebenenfalls
Restriktionen arbeitsmarktpolitische Verwerfungen verhindern können. Die Sicherungsklauseln könnten von den Ländern zusammen
mit ihren Partnern in eigener Regie gehandhabt werden. Für eine solche differenzierte regionale Lösung könnte eine Übergangsfrist
von zwei bis drei Jahren nach dem Beitritt vereinbart werden. Die Europäische Gemeinschaft kennt seit 1968 dieses Instrumentarium
von Sicherungsklauseln, in der Praxis musste sie es allerdings nie anwenden.
Ernstere Fragen ergeben sich im Bereich der Dienstleistungsfreiheit. Wir alle kennen die Probleme mit spanischen, portugiesischen,
britischen oder polnischen Subunterunternehmern auf deutschen Baustellen, die häufig mit massiven Lohn- und Sozialdumping, einem
tagtäglichen Gegeneinanderausspielen inländischer und ausländischer Beschäftigter verbunden sind. Mit der EU-Entsenderichtlinie
und dem bundesdeutschen Arbeitnehmerentsendegesetz sind wichtige Regelungen u.a. zu Mindestlohn und Urlaub geschaffen
worden, die für einheimische wie „entsendete“ Arbeitskräfte von Unternehmen anderer Mitgliedstaaten in gleicher Weise zu gelten
haben. Hier wären die noch bestehenden Unterschiede bei den Mindeststandards für deutsche und EU-Entsendeunternehmen
aufzuheben, d.h. die volle Teilnahme der EU-Entsendeunternehmen an allen Lohnnebenleistungen einzuführen.
Durch illegale Praktiken und Rechtsbrüche meist von Subunternehmern werden Entsenderegelungen allerdings beständig unterlaufen
und Schwarzarbeit befördert. Bußgeldbescheide deutscher Behörden haben oft keine Wirkung, weil sie in anderen Mitgliedstaaten nicht
verfolgt werden können. Deshalb muss die EU noch vor dem Beitritt der osteuropäischen Kandidatenstaaten einen gemeinsamen
Rechtsraum schaffen, der die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Kontrollinstanzen und die Sanktionierung von Verstößen
gegen nationale Entsenderegelungen ermöglicht. Die Praxis der nationalen Behörden muss auf konsequente Verfolgung von
Verstößen und auf eine effektive Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten ausgerichtet werden.
Wir meinen deshalb: Wer die Sorgen der Menschen vor Sozialdumping und Arbeitslosigkeit ernst nimmt, muss wirklich etwas zur
Verbesserung ihrer sozialen und ökonomischen Lage unternehmen – in Ost wie West. Wir wenden uns gegen eine Politik der
Bundesregierung, die mit dem Getöse um die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur Ressentiments schürt und womöglich Bürgerinnen und
Bürger aus den Beitrittskandidatenländern für eine verschlechterte soziale und ökonomische Situation in Deutschland indirekt
verantwortlich macht. Die Themen Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit können nicht isoliert von der marktliberalen
wirtschaftspolitischen Beitrittsstrategie der EU betrachtet werden. Wer von den Osteuropäern zunächst eine gigantische
Strukturanpassung mit mehr Arbeitslosen und höherem Migrationsdruck verlangt, um sie anschließend für sieben Jahre hinter einem
neuen Eisernen Vorhang wegzuschließen, hat mit einem sozialen Europa offensichtlich nichts im Sinn. Gegen diesen Zynismus fordern
wir einen sozial-ökologischen Kurswechsel in der gesamten Erweiterungsstrategie.
Wir sollten nicht zulassen, dass sich EU-Kommission und Bundesregierung aus ihrer Verantwortung stehlen und hinter der Forderung
nach Übergangsfristen für Arbeitnehmer/innen ihre Untätigkeit verstecken. Ein so zentrales Grundrecht wie die Freizügigkeit darf mit der
Erweiterung nicht geopfert werden.
Quelle:
„Neues Deutschland“, 21./22. April 2001