Neue, aber andere Ausländer braucht das Land!
In der Ausländerpolitik scheinen sich die Fronten verkehrt zu haben. Von Andreas Wehr, Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament, erschienen am 01.06.01 im Neuen Deutschland.
In der Ausländerpolitik scheinen sich die Fronten verkehrt zu haben. Waren es über Jahre hinweg alleine Menschenrechtsgruppen,
Kirchen und linke Aktivisten, die sich der von der Regierung und den Medien ausgegebenen Linie „das Boot ist voll“ entgegenstellten,
so hat sich nun, angesichts sinkender Geburtenraten, leerer Rentenkassen und des Fachkräftemangels, der Wind gedreht. Es die
Wirtschaft, die jetzt nach neuen ausländischen Arbeitskräften ruft. Auf ihr Drängen hin beschloß die Bundesregierung im August des
vergangenen Jahres das Fachkräfteprogramm für Computer-Spezialisten, bekannt geworden als „Green-Card-Programm“.
Bei der Hilfestellung für die Arbeitskäftemangel leidende IT-Branche soll es aber nicht bleiben. Schon hat sich das Hotel- und
Gaststättengewerbe zu Wort gemeldet und vergleichbare Programme verlangt. Doch das alles soll nur der Anfang sein. Können
aufgrund des Sofortprogramms gegenwärtig nur wenige Tausend kommen, so werden im Zuge der Osterweiterung der Europäischen
Union hingegen hunderttausende gut qualifizierte Arbeitskäfte in die Bundesrepublik erwartet. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung rechnet mit Beginn der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach dem Beitritt der MOE-Staaten mit knapp 220.000 Zuzügen
im Jahr, deren Zahl sich im Laufe der Jahre allmählich verringern soll. Da paßt es der Wirtschaft gar nicht, daß Bundeskanzler Schröder
mit Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt die Forderung nach einer siebenjährigen Übergangsfrist aufgestellt hat und damit Druck auf
die Europäische Kommission ausübt, dies bei den Beitrittsverhandlungen zu berücksichtigen. Offene Kritik äußerte der BDI-Präsident
Michael Rogowski, der sich bestenfalls für eine Übergangsfrist von höchstens vier Jahren erwärmen kann und zudem eine
Überprüfungsmöglichkeit nach zwei Jahren sehen will. Übergangsregelungen für bestimmte Branchen, Fachkräfte oder Regionen lehnt
er, laut FAZ vom 9.März 2001, gänzlich ab.
Doch was für die einen Ausländer gelten soll, gilt für die anderen noch lange nicht. Während der Bundesinnenminister auf der
Internetseite seines Ministeriums in Deutsch und Englisch für das Fachkräfteprogramm wirbt, blockiert er zugleich eine europäische
Regelung des Familiennachzugs der in der Union lebenden Bevölkerung aus Drittstaaten. Entsprechend dem Auftrag des
Amsterdamer Vertrags von 1997 erarbeitet die Kommission gegenwärtig Schritt für Schritt Regelungen zur legalen Einwanderung in die
Union. Begonnen hat sie dabei mit dem drängenden Problem der Gestaltung des Familiennachzugs, da Brüssel völlig zu Recht davon
ausgeht, daß dies „eine wichtige Voraussetzung für die Integration der rechtmäßig in einem Mitgliedsland ansässigen
Drittstaatsangehörigen“ ist. Wer seine engsten Familienangehörigen nachholen kann, ist eben eher bereit, seinen Lebensmittelpunkt
und vor allem seine Zukunft in dem Aufnahmeland zu sehen. Die Kommission will dabei den Kreis der Berechtigten weiter ziehen, als
dies bisher in den meisten Mitgliedstaaten praktiziert wird. Weiter auch, als es etwa die gegenwärtige Praxis der deutschen
Bundesregierung gestatttet. Im Europäischen Parlament waren es vor allem die Konservativen, die diese Vorschläge erbittert
bekämpften. Doch eine Mehrheit aus Sozialdemokraten, Grüne, Liberale und der Vereinten Linken sorgten dafür, daß der
Richlinienentwurf der Kommission dennoch eine Mehrheit bekam.
Seitdem liegt dieser Vorschlag wieder dem Europäischen Rat vor und wird vom ihm wie eine heiße Kartoffel hin und her gewendet.
Bereits mehrfach wurde das Thema auf die Tagesordnungen der Sitzungen des Rats Justiz/Inneres gesetzt, um postwendend wieder
abgesetzt zu werden. Es ist vor allem der deutsche Innenminister, dem die ganze Richtung nicht paßt. Er geht davon aus, daß die
Ausweitung der Anspruchsgrundlagen für die Familienzusammenführung bis zu einer Verdreifachung der Zuwanderung bringen könne,
die derzeit für Deutschland bei 70.000 bis 100.000 Personen liegt. In einem Bericht der Bundesregierung über die Ratssitzung
Justiz/Inneres vom 30. November 2000 heißt es wörtlich: „Unter solchen Bedingungen bleibe für eine Einwanderung aus anderen
Gründen kein Spielraum mehr. Es müsse daher auf das richtige Verhältnis zwischen humanitärer Aufnahme und wirtschaftlich
begründeter Einwanderung geachtet werden“.
Hier schließt sich der Kreis. Einwanderungserlaubnis ja, aber nur für solche, die dem Arbeitsmarkt als junge, mobile und gut
ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. An eine Verbesserung der Situation der hier lebenden Ausländer wird hingegen
nicht gedacht. Da paßt es ins Bild, daß gerade jetzt Zahlen über die katastrophale Ausbildungssituation vor allem der türkischen
Jugendlichen bekannt wurden. So legen etwa in Berlin nur etwa sieben bis acht Prozent eines jeden Jahrgangs das Abitur ab, 20
bis 25 Prozent verlassen jährlich die Schule sogar ohne jeden Abschluß. Das DIW berichtet, daß im Jahr 1999 nur 65 Prozent der
Ausländer im Alter zwischen 15 und 20 Jahren eine Schule, eine Hochschule oder eine berufsbildende Einrichtung besuchten. Der
Aneil unter den deutschen Jugendlichen lag im Vergleich dazu bei 92 Prozent.
Anstatt durch besondere schulische Förderung, systematischen Deutschunterricht und einer Lehrstellengarantie für alle
Jugendlichen die Integration der von massiver Arbeitslosigkeit betroffenen ausländischen Bevölkerung im eigenen Land
voranzubringen und damit zugleich dem Fachkräftemangel zu begegnen, geht die Wirtschaft und ihrem Gefolge die
Bundesregierung den einfacheren Weg: bereits ausgebildete Arbeitskräfte werden durch vergleichsweise hohe Löhne angelockt.
So spart man Kosten. Über die unsozialen Folgen dieser Politik für viele der bereits hier seit Jahren lebenden Ausländer verliert
man kein Wort. Zynischer gehts kaum!