Anhaltende Verführung oder anhaltende Lebenskraft eines freiheitlichen Sozialismus

André Brie, Prof. Michael Brie und Prof. Dieter Klein

Warum ist für viele Menschen der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte? / Artikel von Dr. André Brie, Prof. Michael Brie und Prof. Dieter Klein (FAZ am 23. August 2001)

Es gibt sicherlich sehr konträre Positionen dazu, ob die Existenz der PDS diesem Lande gut tut oder nicht. Mindestens genauso
umstritten ist die Frage, ob die SPD mit der PDS zusammenarbeiten oder jede Kooperation mit ihr prinzipiell verweigern sollte. Diese
Diskussion wurde auch an diesem Ort geführt (vgl. Hendrik Hansen, FAZ, 8. August 2001). Zweifelsohne ist die PDS in vielerlei Hinsicht
keine „normale“ Partei der Bundesrepublik, weder bezüglich ihrer Geschichte noch in Hinsicht auf ihre Mitgliedschaft und auch nicht
bezogen auf ihre Programmatik. Gerade deshalb ist die Existenz dieser Partei Stein des Anstoßes für eine Reihe von Diskussionen
zum Grundverständnis unserer Gesellschaft. Dies betrifft auch die Frage nach Aktualität oder Überholtheit der sozialistischen Idee.

Sollte man aber wirklich der Annahme folgen, es sei ein Aberglaube, dass Menschen in der Entfaltung ihrer Anlagen durch
ökonomische und soziale Umstände gehemmt werden? Ist es wirklich berechtigt, die „Verführungskraft“ der alten Idee des Sozialismus
vor allem mit der Flucht der Menschen vor der Eigenverantwortung für ihr Schicksal und vor dem unbequemen Verständnis von Freiheit
als Aufgabe zu erklären? Sind Sozialisten eigentlich nur die Ideologen der vereinigten Drückeberger und Faulenzer aller Länder? Und
sollte die Eigentumsfrage nicht tatsächlich ad acta gelegt werden?

Demokratische Parteien haben zwingende Gründe, die Auffassungen der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen, da sie zumindest
am Wahltag auf deren Stimmen angewiesen sind. Dies gilt auch für die PDS. Ihr Sozialismus wäre wie der Sozialismus der SED im
Herbst 1989 keinen Pfifferling wert, wenn er mit seinen Politikangeboten nicht auf gesellschaftliche Resonanz stoßen und Positionen
eines relevanten Teils der Bevölkerung zum Ausdruck bringen würde. Dies sagt nichts über den Wahrheitsgehalt und auch nichts über
die Legitimität sozialistischer Positionen aus, wohl aber etwas über deren Verankerung in der gesellschaftlichen Realität.

Wenn 55 Prozent der Bevölkerung die heutigen sozialen Unterschiede als ungerecht ansehen, 47 Prozent stolz auf den deutschen
Sozialstaat sind (aber nur 5 Prozent auf den Bundestag), 51 Prozent dazu neigen, den Sozialismus als gute Idee zu sehen, die schlecht
verwirklicht wurde, dann ist kaum vorstellbar, dass dies alles Drückeberger oder Faulenzer sein sollten. Alle diese Zahlen sind nur auf
Westdeutschland bezogen, um die DDR-Erbe-belasteten Ostdeutschen für einen Augenblick außen vor zu lassen. Drei Viertel der
Befragten stimmen der Meinung zu, die sozialen Unterschiede blieben bestehen, weil sie den Reichen und Mächtigen nützen und
halten die Einkommensunterschiede für zu hoch. Eine Mehrheit sieht den Staat in der Pflicht, dies zu ändern (alle Daten aus dem
ALLBUS 2000). Auch die Chancengleichheit wird als nicht gesichert angesehen.

Viele von denen, die solche Positionen vertreten, gehören erklärter Maßen zu den sog. Leistungsträgern der Gesellschaft. Für sie sind
Gleichheit und soziale Sicherheit nicht Gegensätze zur individuellen Freiheit, sondern Bedingungen ihres Ausbaus. Für sie ist Freiheit
so zu gestalten, dass sie zumindest zu mehr Chancengleichheit führt. Man sollte sich auch fragen, ob jene knappe Mehrheit der
Westdeutschen, die im Sozialismus auch etwas Positives sehen, wirklich unter dem Nachwirken einer sozialistischen Indoktrination
leidet, der sie doch nie ausgesetzt waren, oder ob hier nicht Erfahrungen mit der eigenen Gesellschaft eine Rolle spielen. Der Verweis
auf analoge Umfragen in den frühen fünfziger Jahren der alten Bundesrepublik hilft da kaum weiter.

Wenn so große Teile der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes Freiheit und Gleichheit gern vereint sehen möchten und sich
Gesellschaft als Verhältnis wechselseitiger Verstärkung von Freiheit und Gleichheit denken, wenn für sie individuelle
Selbstbestimmung und soziale Sicherheit sich nicht ausschließen, so können wir vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen in der DDR
nur davor warnen, diese Mehrheit ohne weiteres der geistigen Verblendung zu bezichtigen und ihren Auffassungen niedrige Instinkte zu
unterstellen. Der Lümmel Volk rächt sich manchmal sehr unerwartet dafür, derart unterschätzt worden zu sein.

Es ist dieser Hintergrund sozialer Erfahrungen mit unserer jetzigen Gesellschaft, vor dem wir im ersten Absatz der Präambel des
Entwurfs zu einem neuen Parteiprogramm der PDS formulierten: „‚Die Würde des Menschen ist unantastbar!‘, dieser Anspruch, auf den
sich das Grundgesetz gründet, begründet auch unsere sozialistische Politik. Die Würde des Menschen ist seine Freiheit und ist seine
Gleichheit. Nur dann, wenn jede und jeder über jene Grundbedingungen verfügen kann, die Leben und Freiheit verbürgen, ist diese
Würde gewahrt. Dies aber ist in Besorgnis erregender und wachsender Weise nicht der Fall. Das wollen wir ändern.“

Wir können auch nur davon abraten, die Frage nach der Gemeinwohlorientierung des Eigentums rechts oder links liegen zu lassen.
Wenn behauptet wird, dass das Grundgesetz die Sozialverpflichtung des Eigentums „lediglich als eine Schranke für das garantierte
Recht auf Eigentum“ gedacht habe, so wird damit die Dramatik der Entstehung gerade der Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes völlig
verfehlt. Nach den Verbrechen des NS-Regimes, die – wie die zähen Auseinandersetzungen um die Frage der Entschädigung der
Zwangsarbeiter deutscher Konzerne und Betriebe noch einmal in bestürzender Weise vor Augen führte – eng mit ökonomischen
Interessen von privaten Eigentümern verbunden waren, verurteilte die CDU im Februar 1947 in ihrem Ahlener Wirtschaftsprogramm das
„kapitalistische Wirtschaftssystem“ und erklärte, dass sie eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ anstrebe, „die dem Recht und der
Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden
dient“. Bis auf den Begriff der gemeinwirtschaftlichen Ordnung könnte dies dem von uns für die PDS verfassten Entwurf eines neuen
Parteiprogramms entstammen.

Man sollte vielleicht auch daran erinnern, dass die Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes einem Kompromiss zwischen konträren
Positionen der beiden großen Parteien Westdeutschlands, der CDU und der SPD entsprangen. Weder konnte sich Carlo Schmidt
durchsetzen, der vorschlug, jenes „der persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum“ zu gewährleisten,
noch der von Seebohm (DP) und Dehler (FDP) eingebrachte Vorschlag, bei der Entschädigungshöhe im Falle einer Enteignung den
Verkehrswert zugrunde zu legen. Im Ergebnis wurden „Eigentum und Erbrecht gewährleistet“ und festgelegt, dass Inhalt und Schranken
durch Gesetze bestimmt werden.

Ganz im Gegensatz zu einer oft vertretenen Position ist die Gemeinwohlorientierung des Eigentums im Grundgesetz aber keinesfalls
nur äußerliche Begrenzung nach dem Motto, man könne alles mit seinem Eigentum machen, solange es nicht anderen schade. Art. 14,
Abs. 2 lautet ganz dezidiert: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Das Wohl der
Allgemeinheit wird damit zur durchgehenden inneren Bedingung der Verfügung über Eigentum. Der Eigentümer wird verpflichtet, neben
dem eigenen Wohl zugleich das Wohl aller im Auge zu haben. Mehr noch: Genau im Falle, da dies nicht der Fall ist, kommt über Artikel
15 die Möglichkeit der Enteignung ins Spiel – „zum Wohle der Allgemeinheit“. Diese Enteignung wird ausdrücklich eingeschränkt auf
„Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“. Damit ist aber auch klar, dass der absolute Schutz von privatem Eigentum im
Grundgesetz nur auf das persönliche Eigentum im Sinne von Carlo Schmidt bezogen wird.

So paradox es vielleicht zunächst klingen mag, wir verstehen sozialistische Politik gerade als Politik, die die gesellschaftlichen
Bedingungen der Akkumulation von persönlichem Eigentum einer und eines jeden befördert, eines Eigentums, dass ein
selbstbestimmtes Leben in sozialer Sicherheit ermöglicht. Und dies sind – auch dies belegen soziologische Untersuchungen – heute
für die Mehrheit der Menschen Arbeit, Gesundheit, Einkommen, Bildung, eine sichere Umwelt usw. Nicht umsonst spricht man von
sozialem und kulturellem Kapital, über das jemand verfügt, um selbstbestimmt zu leben.

Dabei geht es nicht darum, Menschen aus der Pflicht zu entlassen, Eigenverantwortung zu übernehmen und ihre Freiheit auch als
eigene Aufgabe zu begreifen. Aber es kann auch nicht darum gehen, jene, die über ökonomisches und anderes Kapital reichlich
verfügen, die Gesellschaft als Ganze, Wirtschaft und Politik aus der Pflicht zu entlassen, die sozialen Bedingungen dieser Freiheit und
Eigenverantwortung solidarisch für alle zu schaffen. 5 Billionen Dollar sind weltweit in Steueroasen geparkt und wurden auf diese
Weise der solidarischen Mitfinanzierung sozialer Aufgaben entzogen. Beides – die Pflicht zur Eigenerantwortung und die Pflicht zum
Beitrag für das Allgemeinwohl – ist notwendig und sollte nicht ideologisch gegeneinander ausgespielt, sondern praktisch politisch
verbunden werden.

Wir gehören nicht zu den orthodoxen Marxisten der II. und anderer Internationalen, die Enteignung und Sozialisierung als Heilsweg zu
Freiheit und Gleichheit ansahen. Ganz im Sinne der Philosophie einer offenen Gesellschaft, wie sie durch Karl Popper formuliert wurde,
heißt es in unserem Entwurf: „Die Alternative zum kapitalistischen Eigentum besteht für uns deshalb nicht im allumfassenden
Staatseigentum, sondern in der demokratischen Entscheidung über gesellschaftliche Grundprozesse und der Förderung jener
Eigentumsformen, die es am ehesten erlauben, die menschlichen Grundgüter effizient bereitzustellen und gerecht zu verteilen.“

Welche Eigentumsformen auf welchen Feldern unter welchen Bedingungen zur Erreichung dieser Ziele günstig sind, wer welche
Verfügungsrechte haben darf oder nicht, muss konkret diskutiert und nicht abstrakt ideologisch verordnet werden. Im Unterschied zum
orthodoxen Marxismus sehen wir im Eigentum der einzelnen eine fundamentale Bedingung von Freiheit. Dies betrifft die Verfügung über
die eigene Arbeitskraft ohne existenzielle Zwänge genauso wie das Recht, diese Arbeitskraft auch außerhalb der eigenen
Landesgrenzen anzubieten, woran die Führung die DDR die Bevölkerung durch die Mauer hinderte. Wir sehen im privaten Eigentum,
das „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ betrifft, eine Bedingung für Unternehmertum und Innovation, für
betriebswirtschaftliche Effizienz und Wettbewerb. In vielen Bereichen ist es eine Grundlage einer freien Gesellschaft. Zugleich ist dieses
Eigentum aber auch Verfügung über knappe gesellschaftliche Ressourcen. Es gibt den Eigentümern Macht, die mit dem Umfang
dieses Eigentums überproportional steigt und Herrschaft über Andere bedeutet.

Angesichts solcher Machtkonzentration ist es unsere Auffassung, dass nach sozialen und ökologischen Maßstäben in die Verfügung
über „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ eingegriffen werden sollte, wo die Gewinninteressen der Eigentümer mit
sozialer Gerechtigkeit, ökologisch nachhaltiger Entwicklung und mit Gleichberechtigung des Südens in der Weltordnung unvereinbar
sind. Der sog. Atomkonsens ist die mildeste Form eines solchen Eingriffs. Gerade weil Eigentum eine Bedingung für Freiheit der
Einzelnen ist, wird es gefährlich, wenn das Eigentum weniger die Grundlage der Gesellschaft bildet. Es kann zur Bedrohung der Freiheit
der vielen werden. Um so größer das Eigentum an Wirtschaftsressourcen, über das verfügt wird, um so größer der gesellschaftliche
Bedarf, dafür zu sorgen, dass diese Verfügung zugleich dem Allgemeinwohl dient. Alle Rechte ziehen Pflichten nach sich. Dies sollte
weit mehr von den ökonomisch Mächtigen als von den Sozialhilfeempfängern eingefordert werden.

Nach der militärischen Niederlage Hitlerdeutschlands und der Besetzung durch die vier alliierten Mächte war klar, dass die
Eigentumsordnung mit den Zielen eines Lebens aller Menschen in Würde in Übereinstimmung zu bringen war. Dass dies gerade der
Mehrheit der Bevölkerung Ostdeutschlands in der Bundesrepublik besser gelungen schien als in der DDR zeigte der Wille zum Beitritt
im Jahre 1990. Inzwischen hat Ernüchterung um sich gegriffen. Die Siege von Gestern sind keineswegs die Garanten für Gerechtigkeit
heute und der Lebensfähigkeit von Morgen.

Globalisierung, eine neue Welle technologischer Revolutionen von Informationstechnik über Biotechnik bis hin zur Genetik, die
Auflösung wichtiger Grundlagen des traditionellen privaten und staatlichen Lebens, der Zusammenbruch der Lebensgrundlagen von
Hunderten Millionen von Menschen insbesondere in Afrika – viel ließe sich aufzählen – hat schon längst die Frage aufgeworfen, wie die
Eigentumsordnungen weiter zu entwickeln sind und wo größere Veränderungen anstehen. Der Fall Microsoft, die Diskussionen zur
Patentierung von Erbgut, der Übergang zu einem Kapitalismus, in dem der Zugang zu den kulturellen Gütern in den Vordergrund rückt
(Jeremy Riffkins), der Prozess von Rio wären zu nennen. Eine neue globale Bewegung gegen die Verantwortungslosigkeit neoliberaler
Politik der Entsicherung, des Rückzugs der Superreichen und des Staates aus sozialen Pflichten, der Deregulierung zugunsten von
Kapital und zuungunsten von Arbeit und auf Kosten nachwachsender Generationen hat begonnen, die Legitimationsgrundlagen
unserer Gesellschaft wieder zu erschüttern. Die Diskussion über die PDS könnte dazu beitragen, sich diesen Fragen mit Ernst
zuzuwenden.

Die Verfasser sind Autoren des Entwurfs zu einem neuen Parteiprogramm der PDS, der im April 2001 vorgelegt wurde. Dr. André Brie ist
Mitglied des Europaparlaments für die PDS und Leiter des Wahlkampfbüros von Gregor Gysi, MdB, in Berlin.. Prof. Michael Brie ist einer
der Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Prof. Dieter Klein ist Vorsitzender der Zukunftskommission der
Rosa-Luxemburg-Stiftung.