Es wird Herbst in Europa
Artikel für Freitag 41 von Andreas Wehr
Eines kann man den so oft als unbeweglich gescholtenen Bürokraten der Europäischen Kommission diesmal nicht vorwerfen: Verschlafen haben sie die Gunst der Stunde nicht. Nur wenige Tage nach den Attentaten in den USA legte die Kommission zwei fertig ausgearbeitete Vorschläge für Rahmenbeschlüsse auf dem Tisch des Rates, einer zur „Bekämpfung des Terrorismus“ und einer mit dem Ziel der „Einführung eines europäischen Haftbefehls und der sich daraus ergebenden Auslieferungspraxis“. Angesichts der von den Medien aufgepeitschten Stimmung „des nun muss doch endlich etwas passieren!“ war der Rat der Justiz und Innenminister sichtlich froh, überhaupt etwas in der Hand zu können. Um Entschlossenheit zu demonstrieren und Hurtigkeit zu beweisen, beauftragten die Regierungschefs am 22. September, „dieses Einvernehmen zu präzisieren und dringend – spätestens aber auf seiner Tagung am 6. und 7. Dezember 2001 – die diesbezüglichen Modalitäten festzulegen.“ Damit dürften diese Vorschläge in Rekordzeit Beschlüsse werden. Eine ordentliche Beratung im Ausschuss des Europäischen Parlaments, der eh nur das Recht zu einer Stellungnahme hat, oder gar in den nationalen Parlamenten wird auf diese Weise von vornherein unmöglich gemacht.
Doch eine solche kritische Bewertung wäre dringend notwendig, sollen die Freiheitsrechte in vielen europäischen Ländern nicht unabsehbaren Schaden nehmen. Dazu ist zunächst einmal erforderlich, die unheilvolle Verkoppelung dieser Beschlüsse mit den jetzt aus den Terroranschlägen zu ziehenden Konsequenzen rückgängig zu machen, denn das eine hat mit dem anderen nichts gemein. Die stolz von den Regierungschefs in die Kameras gehaltenen Papiere sind mitnichten eine in atemberaubender Schnelligkeit geschriebene Antwort auf die neuen Herausforderungen, sondern vielmehr Ergebnis eines mehr als ein Jahr dauernden Positionsfindungsprozesses in der Kommission, der jetzt – angesichts der Bilder aus den USA – lediglich abgekürzt wird. Gegenstand des Rahmenbeschlusses zur „Bekämpfung des Terrorismus“ sind denn auch die terroristischen Bedrohungen, die sich aus Konflikten innerhalb einzelner Mitgliedsländer der EU ergeben, etwa in Spanien, in Frankreich und in Großbritannien. Hier versuchte die Kommission Antworten zu finden und Vorschläge zu unterbreiten, wie gemeinsame Rechtsinstrumente zur Ächtung und Verfolgung des Terrorismus vor dem Hintergrund europäischer Verfassungstraditionen aussehen könnten. Das ihr das nicht gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt.
Um festzustellen, wie wenig das jüngste Ereignis mit den Diskussionen in Europa gemein hat, genügt bereits ein flüchtiger Blick in den Vorschlag für den Rahmenbeschluss über den „Europäischen Haftbefehl“. In dem zur Begründung angeführten Kontext taucht nicht einmal das Wort Terrorismus als Bedrohung auf, wohl aber die organisierte Kriminalität.
Umgekehrt gilt aber auch, dass die sich jetzt stellenden Fragen in den Ratsbeschlüssen gar nicht angesprochen wurden. Um einmal beim Haftbefehl und der gegenseitigen Auslieferung zu bleiben: Die neuen Bedrohungen werden wohl kaum durch eine zügigere Auslieferungspraxis etwa zwischen der Bundesrepublik und Belgien beseitigt werden können. Hier ist eher zu befürchten, dass Rechtsmittel zukünftig verkürzt oder ganz abgeschnitten werden und darunter das Rechtsstaatsprinzip leidet. Zu fragen wäre vielmehr, warum etwa überführte Straftäter der islamistischen algerischen Heilsfront in der Bundesrepublik in den letzten Jahren großzügig Asyl erhielten. Dementsprechend wurden auch wiederholt Auslieferungsbegehren arabischer Staaten abgelehnt. Auch in Großbritannien meinte man, sich auf diese Art am besten vor terroristischen Attacken aus diesem Raum schützen zu können. Hier sind Antworten gefragt.
Statt dessen hat Schily mit der Billigung des Rahmenbeschlusses über Terrorismusbekämpfung in Brüssel erst einmal die Hand dafür gehoben, dass – wie er es gegenwärtig ja auch in Deutschland vorantreibt – Freiheitsrechte eingeschränkt und abgebaut werden können. Denn sollte das Realität werden, was da am 22. September auf den Weg gebracht wurde, würden die innenpolitischen Verhältnisse vieler EU-Staaten frostiger werden, sie würden sich illiberalen spanischen, britischen und nicht zuletzt deutschen Zuständen bedenklich annähern. Kämpfte der Grünen-Politiker Schily 1977 im „deutschen Herbst“ noch vehement gegen die damaligen Einschränkungen, so steht er jetzt, als SPD-Minister, an vorderster Stelle, um diese Politik auf ganz Europa zu erstrecken.
Dies beginnt bei dem vorgesehenen weiten Terrorismusbegriff, der ausdrücklich auch „Beschädigungen öffentlicher Einrichtungen, öffentlicher Transportmittel, Infrastruktureinrichtungen, öffentlicher Plätze und von Eigentum (privatem wie öffentlichem)“ als unter Umständen terroristische Straftaten nennt. Ausdrücklich wird in der Begründung darauf hingewiesen, dass dies auch „Akte städtischer Gewalt“ umfasst. Voraussetzung zur Bewertung dieser Taten als terroristisch ist das Ziel von Einzelpersonen oder Gruppen, dies zur „Einschüchterung, grundlegenden Veränderung oder Zerstörung der politischen, ökonomischen oder sozialen Strukturen dieser Länder“ zu nutzen. Wer denkt da nicht unwillkürlich an die jüngsten Zusammenstöße in Göteburg und Genua? Vorbilder für diesen weiten Terrorismusbegriff finden sich bereits in den Rechtsordnungen einiger EU-Mitgliedsländer. In Spanien und Frankreich wird ein terroristischer Akt bereits in der „Bedrohung der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Friedens“ gesehen. In Großbritannien und Portugal wird darunter eine „Beeinträchtigung des reibungslosen Funktionierens der Regierung und der Institutionen“ verstanden. In diesen beiden Ländern soll auch schon „eine Einschüchterung von Personen oder Gruppen“ genügen, um Straftaten als terroristische Akte zu bewerten.
Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht um eine Infragestellung der Tatsache, dass solche Taten strafwürdig sind. Sie sind es selbstverständlich und alle Mitgliedstaaten der EU sehen als Rechtsstaaten dafür ausnahmslos Sanktionen vor. Kritisiert wird eine bedenkliche Ausweitung des Terrorismusbegriffs, der zukünftig auch auf einen großen Bereich politisch motivierter Straftaten angewandt werden soll. Dies führt zu einer Stigmatisierung der Täter und ihres politischen Umfeldes und nicht zuletzt zu einer drastischen Heraufsetzung des Strafmaßes. Manche Täter, die bisher mit Geldstrafen oder mit zur Bewährung ausgesetzten Haftstrafen glimpflich davonkamen, werden zukünftig wohl Jahre hinter Gitter verbringen müssen. Um aber auch hier nichts den Gesetzgebern in den einzelnen Mitgliedsländern zu überlassen, liefert der Kommissionsvorschlag gleich den Strafrahmen für die Taten mit, der von den EU-Staaten nur noch übernommen werden muss.
Aber nicht nur die eigentlichen Täter, Anstifter und Helfer sollen aufgrund terroristischer Straftaten verfolgt werden können, sondern auch Personen, die eine „Kontroll- oder Aufsichtspflicht verletzen“, und damit terroristische Taten überhaupt erst möglich machen. Natürlich darf auch, bei besonders schweren Straftaten, die in Deutschland so umstrittene Kronzeugenregelung in den neuen europäischen Bestimmungen nicht fehlen. Werden durch die Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden die „Auswirkungen einer terroristischen Straftat gemindrt oder gar ihre Begehung selbst verhindert“, sollen „mildernde Umstände“ bei der Aburteilung des Kooperationswilligen zur Anwendung kommen.
Der EU-Ratsbeschluss wird die Rechtslagen vor allem der Mitgliedsländer grundlegend verändern, die den Terrorismus auf ihrem eigenen Territorium gar nicht kennen, etwa die skandinavischen oder die Benelux-Staaten. Der Richtlinienentwurf nennt denn auch lediglich Frankreich, Deutschland, Italien, Portugal, Spanien und Großbritannien, in denen bereits jetzt spezielle Antiterrorgesetze existieren, die anderen neun, und damit die übergroße Mehrheit der EU-Staaten, kommen seit jeher mit den dort bestehenden allgemeinen Bestimmungen des Strafrechts und Strafprozessrechts aus. Diese Länder kennen auch die Probleme eines militanten Sezessionismus nicht, wie er etwa Spanien, Frankreich oder Großbritannien terrorisiert. Dennoch sollen sie nun Bestimmungen akzeptieren und damit weitreichende Einschränkungen von Freiheitsrechten in Kauf nehmen, die sich andere Nationen unter ganz bestimmten politischen Konstellationen zur Bekämpfung terroristischer Gefahren gegeben haben. Zu Recht müssen die Öffentlichkeiten dieser Länder dort die Beschlüsse des Europäischen Rats als bürokratischen Akt empfinden, mit denen Dinge von ihnen verlangt werden, für die bei ihnen überhaupt kein Bedarf existiert. Da aber die Beratungszeit der neuen Rahmenbeschlüsse kaum mehr als zwei Monate betragen soll, werden die Beschlüsse bereits in Sack und Tüten sein, ehe dies die Öffentlichkeiten in jenen Ländern überhaupt bemerkt haben. So funktioniert eben Europa!