Globale Welt Globaler Terror – Woher kommt die Gewalt

Podiumsveranstaltung mit Dr. André Brie und Prof. Dr. Werner Ruf: am 18.09.01, 18.00 Uhr in der Rosa Luxemburg Stiftung, Konferenzraum

Moderation: Burga Kalinowksi

Frage nach dem ersten Eindruck

Prof. Dr. Werner Ruf:
Die Eindrücke sind sehr vielfältig. Oft werde ich gefragt, was passiert im Kopf von Osama bin Laden. Was in dessen Kopf vorgeht, weiß ich nicht, aber ich gehe davon aus, dass diese Fragen falsche Paradigmen setzen, weil sie vermitteln würden, dass die Gesamtverantwortung Bin Laden überlastet bekommt, ohne dass hinreichend Beweise da wären. Auch, weil man damit falsche Paradigmen zu Grunde legt, als gäbe es einen weltweiten Oberterroristen. Aber die Dinge sind sehr viel komplizierter.
Die Menschen sind ungeheuer verängstigt, erschüttert über das, was gesehen ist, was medienwirksam immer wieder vermarktet wird. Demnächst kann man sich wahrscheinlich diese Grauensbilder aus dem Internet herunter laden.

Das andere ist, dass die Menschen Angst haben vor der Zukunft. Was wird daraus, wenn jetzt weltweit ein diffuser Gegenschlag veranstaltet wird, gegen wen eigentlich, wohin führt das? Diese Verunsicherung ist überall spürbar. Weil es ja auch nicht mehr das ist, was man unter klassischen Konflikten, klassischen Kriegen, wo Staaten miteinander agieren zu tun hat, sondern es ist etwas ganz anderes. Die Leute sind orientierungslos. Wir hatten gestern Abend im Kasseler Friedensforum, das inzwischen ziemlich geschrumpft ist über 150 Menschen, die betroffen sind, die etwas tun möchten. Das ist eine wichtige Basis auf der Arbeiten können und sollten, wenn wir versuchen wollen etwas zu bewegen und versuchen wollen, die Politiker, die entscheiden davon zu überzeugen, dass sie mit militärischen Mitteln auf dem Holzweg sind.

Frage:
Glauben Sie, dass es einen solchen Anlass brauchte, um Menschen weltweit in einer Art und Weise zu politisieren, die zwischen Angst und Aggression möglicherweise steht?

Dr. André Brie:
Tragischer Weise bedarf eines solchen Anlasses, denn wenn man die letzten 10 – 12 Jahre zurückblickt, liegen die Dinge eigentlich auf der Hand, die passiert sind, die passieren mussten und sie sind vielfach ausgesprochen worden. Ich erinnere nur an den Golfkrieg. Es gab damals viele Analysen, die vorausgesagt haben, was jetzt passieren wird. Z.B. Peter Glotz, der davon gesprochen hat, dass dieser Krieg, wie er geführt wurde gegen Hussein, nicht zu einem positiven Ergebnis sondern nur zu Toten führen werde, dass dieser Krieg gewonnen werden könne, aber die Region verloren gehen werde, dass die islamische Welt gedemütigt werde, dass die eigentlichen Probleme jedoch ungelöst blieben und sich weiter zuspitzen würden. Es gibt viele andere Hinweise – die neue Weltordnung, wie sie Busch Senior damals verkündet hatte, ist ja das, was seit dem exerziert wird. Es gab während des Kosovo Krieges und auch schon zum Bosnienkrieg Analysen, die einen Verfall der Kultur in den internationalen Beziehungen aufgezeichnet, auch empirisch nachgewiesen haben, die alle in den Wind geschlagen worden sind. Die Friedensbewegungen sind weitgehend gelähmt gewesen in den letzten Jahren; es gab keinen wirkungsvollen Widerstand dagegen. Eigentlich sind wir sehenden Auges in diese Situation gelaufen. Wir sind jetzt aufgeschreckt.
Ich befürchte aber auch diesmal, dass uns das gleiche passiert, wie 1990, 1991, dass wir in einem Jahr wieder zur Tagesordnung übergegangen sind und die Lehren die eigentlich zu ziehen sind, wieder missachtet haben werden.

Frage:
Terror ist ja nichts neues, neu ist die Dimension. Bedenkt man die Folgen, die man sich ableiten kann – wo sehen sie diese – was ist neu an dieser Prägung, was könnte das für die Welt bringen?
Welche Möglichkeiten hat die gegenwärtige Gesellschaft oder wie fähig ist sie, damit umzugehen, eine andere Welt zu schaffen? Ist sie überhaupt fähig und in der Lage dazu?

Prof. Dr. Werner Ruf:
Die zweite Frage schwierig und lang.
Zur Dimension: Ursachen sind eine extrem ungerechte internationale Wirtschaftsordnung, die auch mit dem, was über die WTO organisiert wird, den Süden noch mehr ausbeutet, noch mehr ausplündert, d.h. die sozialen Verhältnisse noch krasser macht. Die Weltordnung wird flankiert, aufrecht erhalten durch eine Militärordnung, die dieses befestigt. Das ist mit Sicherheit keine Lösung, denn sie müssen politische d.h. soziale Lösungen haben. Diese Verhältnisse werden schlimmer und wenn dies weiter betrieben wird mit Militärschlägen, bei denen weitere Unschuldige sterben, dann werden wir wahrscheinlich noch mehr Hass, noch mehr Verzweiflung, d.h. noch mehr potentiellen Widerstand bekommen. Eines scheint mir wichtig und neu. Sie fragten, was ist neu. Bisher war Terror oder Gewalt, widerständige Gewalt, immer gegeben, und wir sollten uns mal zurück erinnern, dass unsere bürgerliche demokratische rechtstaatliche Ordnung letzten Endes entstanden ist durch die französische Revolution, und dass auch der amerikanische Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialmacht Großbritannien auch nicht gewaltfrei war. Also es waren immer auch politische Ziele, die dann durchgesetzt wurden, und ich denke, es gab auch unter den Anwesenden hier einige, die die Gewalt der Befreiungsbewegungen gegen die Kolonialmächte für legitim gehalten haben, auch wenn dort z.T. schreckliche Sachen passiert sind.
Neu ist, damals gab es Akteure, die kannte man, die konnte man benennen, es gab auch damals territorial verortbahre Handelnde. Alles das ist heute weg. Das ist Teil des Globalisierungsprozesses, der ja nicht nur ökologisch ist, der nicht nur die Migration betrifft, der nicht nur insbesondere im Bereich des Finanzkapitals grenzenlos geworden ist. Dass jetzt also auch diese Form des Kampfes transnational geführt wird, dass er nicht territorial verortet werden kann ist neu, womit auch gesagt ist, dass Militärschläge unsinnig sind, denn den Staat der Terroristen gibt es nicht und die Akteure bleiben im Dunkeln und bleiben diffuse.

Frage: Meinen Sie dass es möglich ist, etwas global zu verändern?

Dr. André Brie:
Akademisch kann man Konzepte entwickeln, wie Terror bekämpft werden kann. u.a. in dem Rechtstaatlichkeit, Völkerrecht, UNO erhalten bleiben und nicht weiter demontiert werden, indem das weitgehende Gewaltverbot der UNO-Charta und das Gewaltmonopol der UNO durchgesetzt werden, indem eine gerechtetere und demokratischere Weltordnung, vor allem Weltwirtschaftsordnung, durchgesetzt wird, indem die kulturelle Demütigung, der viele Völker unterworfen sind, die auch ihre Entwicklungspotentiale zerstört, ihre Kulturen zerstört – eine ganz wichtige Quelle von Fundamentalismus – beendet wird. Dieser Coca-Cola Imperialismus ist ja in ganz starker Weise ein kultureller Imperialismus. 90 % des internationalen Kultur- und Informationsaustausches – das sind die Hollywood-Industrien. Das kann man alles schön aufschreiben, durchsetzbar wird es nur, wenn es den entsprechenden Druck gibt.

Da muss ich auch mit Teilen meiner eigenen Partei ins Gericht gehen. Wenn man die UNO verteufelt, nur als Machtinstrument der USA sieht, wenn man nicht begreift, dass die UNO ein schwaches, aber eines der letzten Gegeninstrumente gegen die Macht der USA ist, nicht begreift, dass es in der UNO noch viele Entwicklungsländer gibt, Staaten des Südens, die nicht identische Positionen mit den USA haben und wie Seattle gezeigt hat, sich sogar partiell durchsetzen können, dass man diese Barrieren, die durchlöchert sind – jetzt schon, nicht aufrecht erhalten will, sondern statt der Wiedergewinnung und Stärkung dieser, weiß Gott nicht idealen, aber unverzichtbaren UNO auf realitätsferne Wunschvorstellungen einer Traumwelt setzt, dann wird man den erforderlichen und möglichen, den realistischen Widerstand micht organisieren können, nicht einmal organisieren wollen. Ich kann vieles an der UNO-Charta kritisieren, aber es ist zur Zeit eines der letzten Bollwerke gegen die Zerstörung von Völkerrecht, von Beschränkungen der amerikanischen Politik des Unilateralismus der USA.

Eben hier muss der Widerstand entwickelt, hier müssen diese sehr heterogenen Kräfte in den Entwicklungsländern gebündelt und formiert werden und gemeinsam Lösungen gesucht werden, eine nicht-reaktionäre Antwort auf Kapitalismus finden, die im Gegensatz zur reaktionären Antwort steht, wie sie aus dem Fundamentalismus kommt. So war ja der Faschismus nicht nur eine extreme Form von Kapitalismus, sondern auch eine gegenmoderne Antwort auf die bürgerliche und kapitalistische Gesellschaft – beides. Massenpsychologische Wirkungen, so gibt’s das im terroristischen Fundamentalismus ja gegenwärtig auch – der natürlich seinen Nährboden zieht aus unglaublicher Unterdrückung, Ausbeutung, Unfreiheit, Zerstörung, Elend.

Aber es gibt gibt in der Welt des Süden und der Welt des Ostens sehr viele andere Kräfte, die sind nicht links, die sind nicht pazifistisch, und sie sind trotzdem Kräfte, mit denen man zusammengehen kann und muss. Und die UNO-Charta und die UNO wäre eine Basis dafür. Es gibt auch hier im Land sehr viel mehr demokratische Kräfte, als nur die Linke. Es gibt sehr viel Angst in diesem Land, die legitim ist, die nicht herabgeredet werden darf, sondern die sogar ein Bündnispartner ist für eine solche Politik. Aber das alles setzt wirklich voraus, dass es politische Bewegung, Auseinandersetzungen gibt, auch mit langem Atem, weil die Kräfte, die uns entgegenstehen sehr widersprüchlich sind, sehr diffus, und der Terrorismus gehört dazu, eben nicht nur die USA-Politik. Es ist auch dieser Terrorismus, den wir konsequent als Gegner begreifen müssen. Wenn ich lese: “ …das sei der Aufstand des Südens gegen den Kapitalismus“, schüttelt’s mich.

Was ist neu: 1. Der Terrorismus heute ist undifferenziert. Terrorismus ist eine uralte Erscheinung. Gerade Terrorismus hat sich die Herrschaftssymbole in der Vergangenheit gegriffen. Noch bis in die jüngste Vergangenheit. Er ist heute bereit, völlig undifferenziert darüber hinaus zu gehen.
2. Er ist global und international. 3. Er ist massenmörderisch.

Der in Algerien ist auch massenmörderisch und völlig vergessen – vor der Haustür Europas und spielt keine Rolle. Zehntausende Tote. Die bringen dort, wenn sie in diese Lager einfallen, am Tag 100 oder 1000 Menschen um. Da bekommt man hier kleine Notizen in den Zeitungen. Dieser Zynismus, diese Instrumentalisierung, diese Einseitigkeit gehört natürlich auch zu unserer Kultur mit der wir mit solchen Dingen umgehen.

Wir haben noch eine zweite Seite einer veränderten Situation. Es ist ja nicht nur der Terrorismus neu, wir haben auch eine andere Welt, eine extrem verwundbare, eine extrem vernetzte Welt, in der solche Terroranschläge viel mehr ausrichten, als früher, einzelne Terroranschläge, die nicht nur 5000 Tote hervorrufen, sondern die Welt mit ihren ökonomischen Beziehungen, Finanzbeziehungen, polischen Beziehungen sofort von den USA bis in den letzten Winkel dieser Erde betreffen.

Prof. Dr. Werner Ruf:
Ich frage mich ja manchmal, ob dieses World-Trade-Center nicht ein ganz anderes, ein ganz neues Symbol war und ich habe mich gefragt, als das passierte, wenn das mit dem Pentagon nicht gewesen wäre, ob nicht möglicherweise eine fundamentalistische ultraprotestantische Sekte, die ja sonst auch schon Massenselbstmorde oder ähnliches organisiert und hervorgebracht haben, dieses Sündenbabel der Weltfinanz, diese Abartigkeit menschlichen Verhaltens nicht genau so hätten vernichten können oder wollen, wie vielleicht die, denen es jetzt zugeschrieben wird. Also dieses World-Trade-Center hat schon einen auch architektonisch politischen Symbolcharakter dessen, was heute regiert. Und das absurde und perverse daran erscheint mir, dass ja das Kapital, welches keinerlei Grenzen mehr kennt, und wirklich Ausdruck der Globalisierung total ist, nun in die Petrullie gerät. Wenn man diese Dinge schützen will, dann muss man die Transaktionen kontrollieren. Wenn es denn stimmen sollte, was jetzt durch die Gazetten sickert, das also möglicherweise die Finanzierung des ganzen Unternehmens über illegale, manipulative Börsentransaktionen und -spekulationen zustande gekommen ist, dann muss man die Kapitalströme bremsen, d.h. man schränkt die Freiheit des Kern des Kapitalismus ein, die Freiheit dieses international agierenden Finanzkapitals. Also hier sind ganz seltsame Verbindungen und Verwerfungen und Rückwirkungen auf das, was man unsere Ordnung nennt.

In Algerien muss man wissen, ist schon lange nicht mehr klar, wer wen umbringt, und dass viele der Massaker wohl auch auf Kosten der sogenannten Sicherheitskräfte gehen, womit politische Ziele verfolgt werden. Aber das wäre Gelegenheit für einen ganz anderen Abend.

Zur weiten Frage, welche Möglichkeiten?
Ganz grob und ganz oben – das sagte André Brie vorhin schon – ist die Umgestaltung der internationalen Wirtschafts- und Finanznordung. An zweiter Stelle käme vielleicht das Nachdenken über andere Möglichkeiten als militärische. Wenn sich die Welt schon so verändert hat, wenn wir schon in einer globalisierten Welt sind, wo – und da hat sogar Sam Huntington, den man bekämpfen muss, wie kaum jemand anderes, in seiner Ausgangshypothese recht, wenn er sagt, die Konflikte des 21. Jahrhunderts werden nicht mehr nur zwischenstaatliche Konflikte sein. Wir haben andere Akteure, dann müssen wir aber auch mit denen anders umgehen. Und wenn sie schon als Akteure nicht zu orten sind, dann sind sie auch militärisch nicht bekämpfbar, und ich greife da auf ein Projekt zurück, dass da alter Freund und Friedensforscher Andreas Burow entworfen hat, nach dem Ende der Biopolarität „Europa als Zivilmacht, Europa als Weltmacht“. Warum muss Europa eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, die 1. nicht in der Lage ist, dem Militärapparat der USA gleichzuziehen, 2. auch nicht unabhängig wird agieren können und 3. in dieser Situation nutzlos ist. Wäre es da nicht besser, ein europäisches Konzept einer zivilen Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Einer Außen- und Sicherheitspolitik, die drauf setzt, die sozialen Konflikte zu bearbeiten, die darauf setzt, nichtmilitärische Lösungen zu finden und die vor allem die Voraussetzungen hätte, gerade in den Krisenregionen dieser Welt eher akzeptiert zu werden, als das amerikanische Politik je sein kann. Heute morgen habe ich einem Beitrag gehört, in dem es hieß: „Wann hat denn irgend jemand eine kanadische Botschaft angegriffen oder kanadische Bürger entführt?“ Das ist ja nicht weit von den USA- also warum sind die USA zu diesem Feindbild geworden, und warum versucht Europa nicht, wenn es schon die Eigenständigkeit braucht, eine völlig alternative Art, eine völlig andere Außenpolitik zu machen, wie eine andere positive und konstruktive Außenpolitik wäre, als die Militarisierung?

Frage:
Es steht uns sicher nicht an, als nicht direkt Betroffene dies zu fragen. Susan Sonntag sagte u.a. sehr deutlich, dass dieser Angriff kein Angriff auf die Welt war, sondern ein Angriff auf Amerika und Amerika solle sich doch fragen, warum dieser Angriff stattfindet. Gerechtigkeit wird gefordert. Wer fordert Gerechtigkeit, welche Art von Gerechtigkeit? Was wird unter Gerechtigkeit von wem, in welchen Ecken der Welt empfunden und wie und auf welche Weise soll Gerechtigkeit entstehen?

Dr. André Brie:
Wenn ich jetzt höre aus den USA, man wolle einen Kreuzzug führen, einen heiligen Krieg führen – ich nehme mal diese Worte ernst. sind es 1. Worte, mit denen auch die terroristischen Fundamentalisten arbeiten. 2. wenn ich sie geschichtlich ernst nehme, dann kommen sie aus einer unzivilisierten Zeit, interessanter Weise aus einer Zeit, als die arabisch-islamische Welt die abendländische Antike gegen die Finsternis des christlichen Mittelalters verteidigt hat, aufrecht erhalten hat.

Das macht mir schon alles Angst. Da ist heftiger Widerstand notwendig, aber ich bin nicht bereit, mit irgend was diesen Terror rechtfertigen zu lassen. Ich suche nach Ursachen. Ich finde sehr viele Ursachen in den USA, in der amerikanischen Politik,. Ich bin aber schon etwas skeptischer – auch wenn die USA die stärkste Macht sind und in den letzten Jahren, ob das Golfkrieg oder Kosovo ist, militärisch auch immer die führende Rolle gespielt haben oder Clinton, der um von seiner eigenen Sexaffäre 1990 abzulenken, diese Militärschläge führen ließ, ins Nichts, denen viele Unschuldige zum Opfer gefallen sind, für einen perversen Zweck ohne jedes nützliche Ergebnis -, wenn Kanada, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Holland, die Wiege der Demokratie – Großbritannien, so viel weniger Anteil haben sollen an Elend und Unterdrückung, an Gewalttätigkeit an dieser Welt als die USA. Antiterroristische Politik muss aber auch antikriegerische, antimilitaristische sein. Wenn ich Schröder höre: bedingungslose Solidarität. Soll das bedingungslos zum Heiligen Krieg sein, zum Kreuzzug? Ohne Bedingungen!

Ich möchte den Ursachen des internationalen Terrorismus nachgehen. Es ist entscheidend, den Ursachen nachzuspüren, wenn man wirklich Alternativen finden will. Denn sonst bleiben wir auf der Ebene von Vergeltungsschlägen. Aber was ich nicht möchte, dass wir irgendwo bei einer Rechtfertigung für diesen Terror landen. Auch nicht gegen die USA als das vielleicht größere Übel, als die anderen Übel in dieser Welt. Ich plädiere dafür, hier sehr genau zu sein.

Frage:
Wenn die Welt so ist, wie sie gerade beschrieben haben, dann frage ich mich doch, dann ist diese Welt ein Produkt der gegenwärtigen zivilen Gesellschaft. Wo nehmen sie dann die Hoffnung her, das diese Welt, diese Gesellschaft, die das bisher produziert hat, in der Lage sein soll gerade jetzt etwas anderes zu produzieren?

Dr. André Brie:
Diese Welt produziert ja auch anderes. Ich habe einiges schon angeführt. Ich ergänze gern, dass diese Welt schon Kräfte hervorgebracht hat, die eines der verhängnisvollsten Abkommen – das Investitionsschutzabkommen MAI – gestoppt haben, hinter dem die stärksten Mächte dieser Welt standen. Leider hier nicht in Deutschland, wo die meisten nicht mal den Begriff kennen. In Frankreich gab es eine Massenbewegung von Intellektuellen, von Parteien, von Gewerkschaften dagegen. Die haben es gestoppt. Und ich denke auch, dass in dieser Gesellschaft, neben vielem, was wir hier gerade diskutieren, natürlich auch die Alternativen angelegt sind und ich hoffe ja, dass wir dazu gehören.

Frage: Prof. Hans Küng fordert eine neue ethische Weltpolitik. Das wäre doch neu. Ethik als ein neues Prinzip wäre eine Alternative – halten sie das für machbar?

Prof. Dr. Werner Ruf:
Ich schätze Herrn Küng sehr und alle Leute, die sich auf ethische Prinzipien berufen, aber ich glaube die Verhältnisse, in denen wir leben, kümmern sich wenig um Ethik, sondern da geht es um – ich sage es mal so, weil ich meine, dass das Wort Kapitalismus noch immer Gültigkeit hat, um schnellen Profit, und es geht um diese Dynamik. Die Ethik wird immer dann bemüht, wenn sie den eigenen Interessen nützt – nicht bei Hans Küng. Ich sehe aber eine andere Sache und möchte bei der bedingungslosen Gefolgschaft des Bundeskanzlers anfangen. Der Bundeskanzler kann eigentlich nicht eine bedingungslose Gefolgschaft erklären, wenn er nicht weiß, welchen Maßnahmen er folgsam sein will. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat, sie hat eine Vielzahl von internationalen Verträgen unterschrieben. Selbst wenn die USA solche Verträge nicht achten, ist die Bundesrepublik Deutschland immer noch an ihr nationales wie an ihr internationales, an das Völkerrecht gebunden. Und ich glaube da liegt viel mehr drin, als ein formaler ethischer Appell. Rechtstaatlichkeit ist nicht nur ein hohes Gut, sondern Rechtstaatlichkeit hat mit Glaubwürdigkeit zu tun, und der Rechtstaat kann es sich nicht leisten, mit gegenterroristischen Mitteln, so nenne ich erst einmal solche Gegenschläge, den Feind zu bekämpfen. Dann macht er sich selbst unglaubwürdig. Das ist eine sehr große Gefahr, ich glaube das ist ein elementares Prinzip auf dem wir beharren müssen.

Dr. André Brie:
Das ist aber eine juristische Interpretation. Das gleiche was Sie gesagt haben zur Ethik würde ich auch für diesen Fall des Rechts sagen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich über das Völkerrecht, über das Grundgesetz, über den 2 + 4 – Vertrag im Kosovo-Krieg eindeutig – da ist überhaupt nicht daran zu rütteln – hinweggesetzt. Die Ausrufung des Verteidigungsfalles – ich kenne den NATO-Vertrag, der bezieht sich auf Artikel 51 der UNO-Charta – ist eindeutig ein Rechtsverstoß.

Prof. Dr. Werner Ruf:
Aber das ist genau das, was wir vorher gesagt haben. Trotzdem müssen wir darauf pochen und nicht sagen, jetzt schmeißen wir es über den Haufen. Und ich könnte jetzt weitermachen. Die Sicherheitsratsresolution zu diesem Punkt ist eindeutig. Sie zitieren Artikel 51 bis zu dem entschiedenen Komma, aber „das Selbstverteidigungsrecht eines jeden Staates gilt, bis der UN-Sicherheitsrat sich mit der Sache befasst“. Er befasst sich aber nicht, sondern lässt die USA handeln. Also da wird die Charta in Geist und Buchstaben verletzt und die USA können das im Sicherheitsrat durchsetzen. Das ist aber kein Grund, und jetzt nehme ich sie beim Wort, die UN-Charta deswegen dort hin zu kehren, wohin die USA sie haben wollen, nämlich auf den Müllhaufen der Geschichte. Und ähnlich ist es mit der Rechtstaatlichkeit, genau dieses muss eingefordert werden, denn nichtrechtstaatliche Gewaltanwendung produziert genau diesen Terrorismus. Und ich gehe soweit zu behaupten, dass die Leute die dieses in New York und Washington und möglicherweise veranstaltet haben, möglicherweise zynisch und diabolisch und z.T. mit Recht darauf kalkulieren, dass der Westen so reagieren wird, um dem Westen auf diese Art und Weise den terroristischen Nachschub zu beschaffen, den sie brauchen.

Wir müssen jetzt die Börsentransaktionen aus Sicherheitsgründen kontrollieren, da wird der Rechtstaat wieder ins Spiel gebracht. Und wenn sie sehen, wie weltweit auf der einen Seite anarchisch brutal profitorientiert gewirtschaftet wird, so haben sie auf der anderen Seite den Ruf des Kapitals, nach rechtstaatlichen Verhältnissen. Wer investiert denn, wenn er nicht weiß, was morgen aus den Investitionen wird. Also da sind Widersprüche im Gange, an denen man sich – so wie die Welt ist – wo man sich anhängen muss, wo man versuchen muss, daran zu arbeiten.

Frage: 58 % der Menschen sind für militärischen Beistand, nach Forsa 69 % und davon 88 % für genaue, präzise Ermittlung der Schuldigen. Wie würden Sie auf das Ereignis spontan reagieren?

Prof. Dr. Werner Ruf:
Keine militärischen Maßnahmen – ist doch ganz klar.

Dr. André Brie:
Also spontan hätte ich nicht spontan reagiert.

Frage: Wie dann? Gysi sagte ja.

Dr. André Brie:
Gysi hat militärische Mittel, aber nicht militärische Schläge erwähnt. Sein Beispiel ist die israelische Kommandoaktion zur Ergreifung von Eichmann gewesen. Ich halte militärische Schläge, Gegenschläge, Vergeltungsschläge für völlig falsch und kreuzgefährlich. Sie würden genau das Gegenteil bewirken. Dass die Verantwortlichen gefasst werden müssen, halte ich für dringend geboten. Das ist ein Netz von Terrororganisationen, da schwelt weiteres, das sind reale und große Gefahren, die sind sehr ernst zu nehmen haben. Es sind Tausende unschuldig ums Leben gekommen – da muss wirklich was geschehen, aber mit militärischen Schlägen wird das nicht geklärt werden können, im Gegenteil, das bringt noch mehr Terrorismus hervor. So wie der Golfkrieg – glaube ich – den Terrorismus genährt hat, so würde diese Entwicklung zu weiterer Eskalation führen.

Frage:
Ich habe hier ein Buch von 1983 – es fand schon einmal in Genf eine Konferenz zum Terrorismus, zur Terrorismusbekämpfung statt. Aber es hat sich seit dem nichts wesentliches geändert an der Einschätzung und auch an den Vorschlägen, wie man damit umgehen kann. Es ist trotzdem nichts passiert. Was wird passieren?
Welche Beweise würden Sie verlangen, um für sich selbst sicher sein zu können: „Das ist der Mann und jetzt ganz schnell ein Kommando los, um ihn unschädlich zu machen“?
Nehmen die europäischen Staaten nur Weisungen entgegen ohne hinterfragen zu können oder meinen Sie, dass es da um Beratungen geht, Gespräche miteinander, wie man mit der ganzen Sache umgeht?

Dr. André Brie:
Die EU-Europäer hätten nach 1989 die Chance gehabt, eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Mit dem Bestreben gerade nach dem Kosovo-Krieg – aber die Dinge gingen schon wesentlich früher los (insbesondere mit dem Petersberg-Abkommen) – einen zusätzlichen Militärpakt zu bilden, machen sie genau das Gegenteil. Sie begeben sich ins Fahrwasser der USA, in deren Abhängigkeit. Viele glauben, dass eine europäische Interventionsarmee Unabhängigkeit bedeutet oder größere Spielräume. Ich bin der festen Überzeugung, dass man damit zur Militarisierung der internationalen Beziehungen beiträgt, zu solchen Beziehungen, in denen die USA dominieren. Man verspielt zur Zeit den letzten Rest von Spielräumen. Man wird Weisungen entgegennehmen, man ist selbst – das kann ich z.T. sogar verstehen, in einer extremen Enge. Die Möglichkeiten, die es gegeben hat, sind eigentlich schon zerstört. Und erst recht mit dem Reagieren in den letzten 7 bzw. 8 Tagen. Also werden sie eher Befehlsempfänger sein und damit die EU einschließlich ihrer Militärorganisation, die da im Aufbau begriffen ist, zu einem Bestandteil von USA-Politik machen.

Es wäre wirklich interessant, an solche Dinge heranzugehen: Kontrolle der internationalen Finanzkreisläufe, Geldwäsche, Drogengelder usw. Hier käme man an Wurzeln nicht des Terrorismus, aber an die Finanzierbarkeit von Terrorismus. Aber da kommt man eben auch an Wurzeln von Kapitalverhältnisse, wie man sie heute in der Welt hat. Ich war vor einem halben Jahr in Bolivien und habe mir dort ansehen können, wie die USA den Coca-Anbau bekämpfen, und was positiv war, was die Europäer dort machen. Die EU realisieren dort völlig andere Projekte, gerichtet auf zivilgesellschaftliche Strukturen, auf alternative Wirtschaft. Die USA gehen nur repressiv vor und treiben damit die vorhandenen, noch transparenten Strukturen in die Illegalität, aber eng vernetzt, mit dem, was in den USA ist. Ein Großteil dieses Terrorismus wird finanziert auch aus hochoffiziellen Finanzkreisläufen.

Prof. Dr. Werner Ruf:
Wir hatten das ja bereits in der Iran-Contra-Affäre, wo tatsächlich Waffenlieferungen auch mit Drogengeldern hochoffiziell über das US-Außenministerium des Pentagon gelaufen sind. Wenn Sie auf das Buch hinweisen, in dem die Autoren das Phänomen des Terrorismus beschreiben, darf man nicht vergessen, dass all diese Leute Dienste vertreten, die auch darum kämpfen im Kampf um Haushaltsmittel entsprechend bedient zu werden. Und das ist ein ganz wichtiges Motiv. Wenn ich die Gefahren darstelle, kann ich auch sagen, welche Mittel ich brauche, um diese Gefahren wirksam zu bekämpfen. Einer von ihnen Topphoven gehört zu den Leuten, der wie kaum ein anderer daran mitgewirkt hat, das Spektrum der islamischen Bedrohung, wissenschaftlich verkleidet, die Huntington geliefert hat, hochzuheben und solche Sachen haben auch ihre eigene Dynamik, wenn ich hingehe und einen ganzen Kulturkreis verteufle und die Zivilisation verteidige. Gegen wen denn, gegen die Barbaren, die anderen, die Untermenschen? Ich weiß, wovon ich spreche und kann das auch belegen.

Das alles hat seine Anfänge schon bei Luther, bei seinen antijüdischen, antimuslimischen Triaden; es geht weiter in der Orientalismusdebatte im 19. Jahrhundert, wo der Imperialismus seine Überlegenheit rechtfertigen musste, und die Vokabel Kreuzzug beinhaltet eine ganze Menge in diesem Sinne. Wenn ich das nun tue, dann stifte ich auch Identitäten und die ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren kommen dazu und dann schaukelt sich das hoch. Und es ist doch seltsam, dass jeder von uns eigentlich wusste, als dieses Flugzeug in den Tower einschlug, Terroristen können nur die sein…. dass der Kleine Mann auf der Straße vermutet, alles, was mit dem Islam zu tun hat .. jeder Moslem ist ein potentieller Terrorist. Das führt zu einer Stimmung in der Gesellschaft, in unserem Land und in den USA und in anderen Ländern, mit der man die Hatz auf Ausländer dieser Art, dieser Religionsgemeinschaft fast freigibt. Oder Leute, die sich als Vaterlandshelden führen, wenn sie uns hier von dieser Pest befreien, die Menschen bekämpfen. Auch da ist Rechtsstaat gefordert. Und ich denke, wir kommen in ganz schlimme Konflikte, weil das Dynamiken sind, die sich gegenseitig hochschaukeln. Das zu den Menschen, die aus organisationssoziologischen Gründen solche Dinge schreiben, und die hinterher selber dafür sorgen können, in den Ämtern, in denen sie sind, dass sie auch noch den empirischen Beweis liefern können.

Frage: Die Tendenz der Verteufelung gibt es schon lange. Frage: Wenn möglicherweise Pakistan zu einer amerikanischen Militärbasis ausgebaut wird, um einen schnellen Schlag gegen Bin Laden zu führen, wie gefährlich kann das für diese Region sein? Entsteht damit nicht noch ein weiterer Konflikt in dieser Region unter dem Gesichtspunkt, dass Pakistan über Atombomben verfügt?

Prof. Dr. Werner Ruf:
Ich denke, Pakistan wird sie in diesem Konflikt selbst nicht einsetzen. Ich sehe eine ganz andere Gefahr. Unsere Analytiker, unsere Politiker rechnen immer mit den Regierungen. Dabei vergessen sie ganz, dass es in Staaten auch Völker gibt, und alle diese Völker werden von diesen Regierungen unterdrückt, ausgeplündert, geschunden, eingesperrt, gefoltert, verfolgt. Es genügt wirklich ein Funken, um dieses Pulverfass hochgehen zu lassen. Saddam Husseins Spekulation im Golfkrieg war nicht völlig falsch. Denn er dachte, mit diesem Konflikt, und mit dem, was dem Irak passieren wird, wird es in der arabischen Welt eine Revolution, einen Aufstand geben. Und es kann sein, wenn es an einer dieser Ecken irgend etwas passiert, dass es dann einen Flächenbrand über die ganze Region gibt. Damit rechnet man nicht und das ist ungeheuer gefährlich in dieser Situation. Und denken sie daran, wann auch immer in diesen uralten despotischen Regimen ein Machtwechsel ansteht – der Westen predigt Demokratie, Menschenrechte – ich lasse unser Asylrecht weg. Wenn es aber zum Machtwechsel kommt, heißt es doch immer: Wird er, der Nachfolger die Stabilität erhalten können, der Nachfolger z.B. in Jordanien, Marokko, wird er also weiter repressiv mit Folter, mit Polizeiterror seine Bevölkerung niederhalten können, im Interesse des Westens? Und das ist das nächste, was den politischen Islam stark gemacht hat, dass man meint, oder meint begriffen zu haben, dass die dort vorhandenen Potentaten die Statthalter der westlichen Interessen sind, und dass die auf Kosten der Bevölkerung sich bereichern. Das ist das, was die Masse antreibt und womit man auch politisch argumentieren kann. Und diesen ganzen Aspekt hat man nicht bedacht. Pakistan hat eine der stärksten islamistischen Bewegungen, das ist ein Tanz auf dem Pulverfass.

Diskussion:
möglich wäre, nur einzelne Sätze, die für sich stehen können zu zitieren.

Chrapa
Für mich kam dieses schreckliche Attentat nicht überraschend, auch weil es ja nicht nur empirische Belege aus den 90er Jahren gegeben hat, sondern hier in den Räumen der Stiftung lagernd, eine 1999 im Spiegel veröffentlichte Studie die …Unit Studies, in dem 5 Szenarien für Europa beschrieben werden, die bis zum Jahr 2004 reichen. Eines davon ist: „Terroranschläge in den Metropolen“, eines ist „Bürgerkrieg aus sozialen Konflikten heraus“. Es war nicht überraschend. Es war schockierend.
Ich glaube, dass es uns eine sehr große Lehre vermittelt, dass wir in einer Welt leben, und es geht uns alles etwas an, ob es in den Medien erscheint oder nicht, ob es in Algerien passiert oder in Deutschland. Kurzer historischer Rückblick: 1983/84 brachte Gorbatschow und einige seiner Anhänger von die These von der Interdependenz der Welt auf. Das war die Erkenntnis, wir werden untergehen zusammen oder wir werden uns aufeinander einlassen müssen. Eine ähnliche Lehre in gleicher Größenordnung steht uns bevor. Man könnte es vergleichen mit dem Bauern, der aus seinem Dorf heraus sich auf die Nation beziehen muss. Und wir müssen uns heute auf eine große Nation beziehen.
Ich glaube nicht, dieser Anschlag war eine kleine Störung in dieser Welt, sondern ihre Kenntlichkeit. Es zeigt sich nämlich, diese Welt ist sehr vielschichtig, und sie hat auch sehr böse Gesichter und ich meine nicht nur Unterentwicklung, Krieg Norden gegen Süden etc.. Wir müssen damit leben, die Welt ist nicht heil, sie hat Irrationalismus, sie hat Grausamkeit, Fanatismus, Verstümmlung und das passiert alles, während wir leben und wir sehen oft nur die eine Seite. Chancen ergeben sich natürlich. Konflikte bringen Gegenkräfte hervor. Auf jeden Fall können wir lernen, dass Politik gefordert ist. Das, was jetzt kommt, ist eben nicht durch reine Ökonomie, durch reine Appelle, sondern durch politisches Eingreifen bestimmt. Die Frage, ob Politik ohnmächtig ist oder nicht, stellt sich auf ganz neue Art und Weise. Wir sollten darüber nachdenken, welches Problembewusstsein wir von dieser Welt haben. Wenn wir uns auf die Medien verlassen, erleben wir eine glatte verschönte, verzuckerte, heile Welt. Die Medien in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit, sind nicht geeignet, viele Menschen, demokratische Individuen dazu zu bringen, die Problemlagen dieser Welt richtig wahrzunehmen. An dieser Medienkritik können wir alle mitwirken.

Frage nach der Rolle und den Möglichkeiten von Geheimdiensten

Dr. André Brie:
Es ist deutlich geworden, dass Geheimdienste nicht das Mittel sind, so etwas zu verhindern. Dass wir in einer Welt leben, die wenn sie so weiter macht wie bisher, mit den Mitteln wie bisher, sich nicht gegen Terror schützen kann, weder durch Geheimdienste, noch durch Militärmacht, selbst und gerade nicht mit so hochtechnologischen Mitteln wie dem NMD-System (National Missiles Defense). Es wird in unglaublicher Schärfe deutlich, was das für ein Unsinn ist, für den behaupteten Zweck zumindest.

Wenn gesagt wird, künftige Anschläge müssen ausgeschlossen werden, darf ein Kurzschluss nicht zugelassen werden, nämlich die Hoffnung, dass jetzt schnell irgend welche Dinge kommen und das Netz von menschenverachtendem Terrorismus beseitigt ist. Das kennen die ja gar nicht. Die große Gefahr, die ja jetzt droht, ist ja, dass sie blind losschlagen, dass sie Unschuldige treffen, dass sie Ursachen schaffen, für eine Eskalation dieser Positionen, aus denen sich der Terror nährt. Die haben das nicht in der Hand. Das ist völlig ausgeschlossen, dass mit solchen Mitteln, die jetzt offensichtlich geplant werden, irgend etwas Positives erreicht werden kann. Die USA haben dies noch nie geschafft.

Zur Frage nach den rechtlichen Kriterien, nach den Beweisen: Man muss wirklich Beweise haben, dass es Bin Laden war. Die Strukturen müssen aufgedeckt werden, die Leute müssen klar benannt werden. Dann muss die Auslieferung dieser Täter verlangt werden. Hier müssen erst einmal völkerrechtliche Kriterien angewendet werden. Wenn das nicht der Fall ist, dann halte ich auch Kommandoaktionen angesichts des massenmörderischen Ausmaßes dieses Terrors für nicht ausgeschlossen. Aber nur für diesen konkreten Fall, nur auf dieses ausschließliche Ergebnis gerichtet. Keiner hier im Saal oder in diesem Lande wird so fundamentalistisch sein, dass er die Verfolgung eines Mörders hier in diesem Land, nur deshalb untersagen möchte, weil es eine bürgerliche, kapitalistische Polizei ist.

Wenn man diese Anschläge wirklich ausschließen will, dann ist es eine lange Anstrengung und dann geht es um sehr grundlegende Veränderungen in dieser Welt. Konkret und vordinglich muss man wirklich anfangen mit dem westlich-arabischen Verhältnis. Und das hat auch sehr viel mit der Situation im Nahen Osten zu tun. Das ist ein Konfliktherd, aus dem sich Fundamentalismus nährt. Wenn man den Anspruch hat, demokratisch zu sein, aber aus Sicherheitsgründen ein ganzes Volk jahrzehntelang unterdrückt, einsperrt, vertreibt, ihm die demokratischen und Freiheitsrechte verwehrt, dann ist das eine Quelle für die Rekrutierung von Leuten für neuen Terrorismus. Der Nahost-Konflikt wäre die wichtigste aktuelle Sache, die die sogenannte westliche Welt auf die Tagesordnung setzen müsste.

Wer Rechtstaatlichkeit außer Kraft setzt, mit dem Argument hier gehe es um irrationale Terroristen, der zerstört Rechtstaatlichkeit überhaupt. Der trifft Unschuldige, er untergräbt den Glauben an Recht. Was militärische Dinge betrifft, halte ich diese für kontraproduktiv.

Prof. Dr. Werner Ruf:
Kommando-Aktionen, aber dennoch rechtstaatliche Untersuchungen. Denn es kann nicht angehen, dass Richter und Ermittler identisch sind und darüber entscheiden, wer denn nun was schuldig ist.
Wir dürfen nicht vergessen, die USA haben vor einigen Tagen etwas erlebt, was es in den USA noch nie gegeben hat und was bisher unvollstellar war. Die USA hatten noch nie Krieg im eigenen Land, oder einen Angriff im eigenen Land. Der einzige Krieg war der Sezessionskrieg im eigenen Land. Auch der Angriff auf Pearl Harbor war der Angriff auf eine Kolonie, es war weit weg, es war nicht der Kontinent, der von zwei Meeren geschützt wird. Und politische Entscheidungen werden auch aus innenpolitischen Erwägungen getroffen. Wie jetzt die Vergeltungsdiskussion angeheizt wird, setzt sich die Regierung selbst unter Zugzwang. Das ist in Demokratien auch ein Aspekt, der nicht immer sympathisch ist, dass man eine Stimmung veranstaltet, um ihr hinterher genüge tun zu müssen.

Zum Versagen der Geheimdienste: Dieser Bin Laden, der jetzt als Oberfigur, Drahtzieher und Organisator etc. gehandelt wird – ich vermute ja, dass diese terroristischen Netzwerke so es sie gibt – sehr viel dezentraler operieren. Das ist doch die Drehscheibe gewesen, mit der die USA damals den von Freiheitskämpfern getragenen Partisanenkrieg gegen die Sowjetunion geführt haben. Als vernünftiger Geheimdienst hinterlasse ich da doch ein paar Maulwürfe, wenn ich gehe. Also das gehört zu den elementaren Dingen – das wissen wir ja alle aus der Aufarbeitung wenigstens eines deutschen Geheimdienstes … Wenn das so wäre, wäre das Stümperei und ich gehe noch einen Schritt weiter. Dieser Mann ist nützlich, den braucht man, den wird man gar nicht fangen wollen. Genau so wie Saddam Hussein heute noch an der Macht ist, damit man den Irak einen Schurkenstaat nennen kann. Wenn man wollte, wäre er längst weg. Hat man aber die Schurkenstaat-Diskussion nicht – man braucht ja einen, der halbwegs raketenfähig ist, oder so getan hat, als wäre er’s – dann könnte man ja auch nicht sagen, man brauchte die National Defense. Dann bedroht uns ja keiner mehr. Man muss auch die funktionale Nützlichkeit solcher Figuren immer mit einkalkulieren, wenn man über diese Dinge redet und ich glaube, man darf in einem Land, das doch so isoliert und so auf sich selbst bezogen ist, wie die USA, diesen Schock nicht unterschätzen, den die Regierung unter Handlungszwang setzt. Handlungen konform zum Völkerrecht – das war noch nie die starke Seite der US-Militärpolitik.

Ellen Brombacher
Man hört, dass der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen mit in Betracht gezogen wird. Mir erscheint das so unwahrscheinlich, dass ich es mir nicht vorstellen kann. Wie ernst ist das Ihrer Auffassung nach zu nehmen? Bemerkung:
In den Nachrichten die erste Bemerkung des Verteidigungsministers zur Auslieferung Bin Ladens war, das würde nicht reichen. Wenn jetzt die Frage steht nach begrenzten Komandoaktionen – dann muss ich sagen, das was hier in der Welt läuft, ist doch nicht die Vorbereitung einer Kommandoaktion. Das ist die Vorbereitung eines Krieges.

Dr. André Brie:
So, wie die Ordnung zur Zeit ist, gebiert sie Terrorismus, gebiert sie Gewalt, gebiert sie alltäglich Unterdrückung, Ausbeutung. Aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die warten wollen, dass irgendwo ein anderes System existiert, in dem dann unsere Hoffnungen auf eine andere Welt realisiert werden können. Ich halte es für notwendig, und ich halte es für möglich, heute zu beginnen.

Was die Frage der taktischen Kernwaffen betrifft, sollte man sich nur mal die Strategie der NATO ansehen. Und ich hätte mir wirklich gewünscht, 1999 oder 2000, dass meine Partei, diese Frage, die in dieser Gesellschaft so wenig diskutiert wird, wo es eine Medienblockade gibt, wo die Leute nichts davon wissen wollen, zum Teil aus Gründen, die ich gut verstehe, dass also meine Partei ihre Kräfte gebündelt hätte, ihre Finanzen zusammengenommen hätte, ihre Genossinnen und Genossen informiert und motiviert hätte, um auf die Straße zu gehen, um aufzuklären, was in dieser NATO-Strategie von Ottawa steht, was sie bedeutet. Da steht nämlich z.B. dass Kernwaffen sogar zuerst eingesetzt werden können, als Möglichkeit gegen die angebliche Weiterverbreitung oder Produktion von atomaren, chemischen oder biologischen Waffen, Es ist doch geradezu pervers, wenn der West Kernwaffen einsetzen will, um das angeblich zu verhindern. Das erlaubt diese Militärstrategie, die mit Zustimmung der grün-roten Regierung angenommen worden ist. Eindeutig auch ist sie völkerrechtswidrig. Diese Nato-Strategie hat anders als die früheren Nato-Strategien – natürlich auch, weil man neue Feindbilder finden musste, neue Legitimationen für neue Streitkräfte finden wollte, auch den Terrorismus zum Gegenstand gehabt. Das ist nicht so neu. Wir haben aber leider, das muss ich selbstkritisch sagen, dass muss ich auch für meine ganze Partei sagen, anders als der Kasseler Friedensratschlag, die da sehr viel getan haben, extrem wenig unternommen, um in dieser Gesellschaft Problembewusstein, Gefahrenbewusstsein, Informationen hervorzurufen.

Prof. Dr. Werner Ruf:
Zur Frage nach Gerechtigkeit in diesem System – das ist eine berechtigte, eine zentrale Frage. Wenn ich dieses System verändern will. Dann brauche ich entsprechende politische Kräfte. Und die sind im Augenblick oder auch im nächsten Jahrzehnt wohl kaum zu sehen. Und dann denke ich, bleibt nur eine Möglichkeit – so mies das jetzt klingen mag – auf reformistischen Weg versuchen zu ändern, was zu ändern ist, oder besser zu erhalten, was zu erhalten ist. Es geht ja immer noch weiter in Richtung Abbau von Bürgerrechten, Abbau von Rechtstaatlichkeit. Wir werden sehen, was in den Bereichen Datenschutz, Ausländerrecht, etc. jetzt gemacht wird, wie diese über 5.000 unschuldige Toten genutzt werden, für andere Zwecke.
Zu den taktischen Atomwaffen. Man hat sie inzwischen soweit entwickelt, dass man sie taktisch d.h. punktgenau, d.h. relativ umweltverträglich einsetzen kann, dass sie möglicherweise weniger verseuchend sind, als massenhaft verschossene, mit abgereichertem Uran versehene Panzermunition und dergleichen mehr. Ich bin kein Befürworter dieser Schweinereien. Aber die Grenzen werden wie bei allem, fließender werden und es ist nicht mehr lang, da wird man sagen, die sind viel humaner, so wie von der Neutronenbombe gesagt wird, sie sei die einzige Bombe, die das Privateigentum respektiert. Geht nichts kaputt bei, außer den Menschen. „Was ist denn schöner, von einer Atombombe getroffen zu werden oder von einem rostigen Messer niedergemacht werden.“ Das ist dann die Argumentation, die dahinter steht. Und ich denke, auch darauf sollten wir uns vorbereiten.

Michael Brie:
Ich denke, man muss sehr genau unterscheiden zwischen den Ursachen und der Rechtfertigung von individuellem Verhalten. Das sind zwei verschiedene Dinge. Man muss zwar sagen, wo Gewalt herkommt, aber das legitimiert nicht ein Grundgebot der Zivilisation zu verletzen – Du sollst nicht töten. Genau so kann man das jetzt anwenden und sagen, Wenn 5.000 Menschen umgebracht wurden, egitimiert das eben auch nicht zu töten, sondern man muss aus dieser Spirale genau raus. Diesen prinzipiellen Unterschied muss man machen und ich warne davor, jetzt mit einem Systembegriff zu agieren, wie Kapitalismus und Imperialismus, wenn wir nicht zugleich unterscheiden, dass Amerika nicht nur eine imperiale Macht, und nicht nur Kapitalismus ist. Das sind auch Menschen, die dort leben und die wollen friedlich leben, – viele von denen. Man muss diesen Unterschied auch deshalb machen, weil die Entwicklung in den USA, die hervorgebracht wurde, die Amerikaner selber – auch wenn sie das nicht so sehen, in eine Geisel nimmt. Ihre eigene unilaterale Herrschaft, macht sie genau zum Angriffspunkt, gerade wenn man einen Antiamerikanismus verhindern will. Eigentlich wäre unmittelbar geboten gewesen, Schritte zu unternehmen, die zur Lösung des Palästina-Konflikts, Nahost-Konflikts beigetragen hätten.

Im übrigen muss man jedes erfolgreiche Handeln moralisch, ethisch gewinnen. Wenn man es nicht ethisch, moralisch gewonnen hat, wird man es auch sonst nicht gewinnen oder man hat eine brutale Diktatur, die auf die Dauer nicht aufrecht zu erhalten ist, die eben dann mit Terror in die Zentren der Diktatur verbunden ist.

Bürgerin
Amerika ist viel größer und es geht ja nicht gegen die Amerikaner.

Prof. Dr. Werner Ruf:
Die „USA“ kann man sagen, ich denke das ist Synonym für die Regierung. Man kann auch sagen Washington. Die Amerikaner sind etwas anderes. Und wir alle wissen, dass wir in den USA wichtige Verbündete in den Friedensbewegungen haben und starke, kämpferische und mutige Verbündete. Und das dürfen wir nicht in den dummen Topf von Nationalismus stecken, sonst fühlt sich hinterher, fühlen sich die Angehörigen der PDS plötzlich nicht mal mehr als Deutsche.

Dr. André Brie:
Es ist vielleicht kein starker Verbündeter, so wie das. Prof. Dr. Werner Ruf gerade in Bezug auf einige Menschen in den USA gesagt hat, kein sehr konsequenter Verbündeter, aber ich glaube seit Freitag, dass man in Johannes Rau einen Verbündeten hat; seine Rede hat mich ermutigt. Die Bundesregierung selbst sehe ich zur Zeit auf einem völlig falschem Weg.