NMD – nicht mit Deutschland
André Brie, Artikel für „Das Blättchen“, 20. März 2001
National Missile Defense (NMD; Nationale Raketenverteidigung) heißt das außen- und sicherheitspolitische Schlüsselprojekt der Bush-Administration. Noch vor kurzem glaubten einige Journalisten, es auch mit „Nicht Mit Deutschland“ übersetzen zu können. Inzwischen hat nahezu die gesamte deutsche politische Elite ihre Kritik an NMD eingestellt, und Bundeskanzler Schröder hat nicht nur eine deutsche Beteiligung befürwortet, sondern auf dem deutsch-französisch-polnischen Gipfel in Weimar auch die beiden Nachbarländer zur Unterstützung dieser Position veranlasst. Deutschland ist zum ersten Mal in der europäischen Geschichte nicht nur die ökonomisch stärkste Macht des Kontinents (das galt auch bereits vor dem ersten und dem zweiten Weltkrieg), sondern hat einen qualitativen ökonomischen und finanzpolitischen Vorsprung vor den Konkurrenten. Offensichtlich beginnt die Bundesregierung nun, auch sicherheitspolitisch den europäischen Ton anzugeben. Dass Schröders grüner Regierungspartner die Position des Bundeskanzlers früher oder später übernehmen und die grüne Parteibasis sich erneut – grollend oder demütig – damit abfinden wird, dass die politischen Beschlüsse ihrer Parteitage Makulatur in den Regierungspapierkörben wird, ist so sicher, dass es sich nicht mehr lohnt, diese Frage zu erörtern. Soweit also die rot-grüne Bundesregierung für Deutschland spricht, kann von einem „nicht mit Deutschland“ nicht mehr die Rede sein. SPD und Grüne sind derzeit nur in der Opposition zu rüstungskritischer Politik fähig. Und dennoch wird meiner Meinung nach das amerikanische Rüstungsprojekt „nicht mit Deutschland“ realisiert werden. Der deutsche Regierungsdevotismus und -opportunismus gegenüber den USA ignoriert die gefährlichste und entscheidende Seite dieser Politik.
Zunächst sei aber darauf hingewiesen, dass sich die Bundesregierung mit Schröders Schwenk in unverantwortlichster Weise an einer politischen und militärischen Strategie beteiligt, die weiteren Sprengstoff auf diesem Erdball anhäufen wird – und das im übertragenen wie im wörtlichen Sinne.
Erstens bedeutet das NMD-Projekt eine neue, äußerst aufwendige und destabilisierende Rüstungsrunde im Hightech-Bereich. In einer Welt, die sicherheitspolitisch, wirtschaftlich, sozial, ökologisch und nicht zuletzt geistig geradezu existenziell der Entmilitarisierung ihrer internationalen Beziehungen bedürfte, nehmen derartige Rüstungen einen extrem gefährlichen Charakter an. Die von den USA oder auch von der Bundesregierung und ihren Experten zur Begründung des Vorhabens angeführten Bedrohungen durch „Schurkenstaaten“ oder den internationalen Terrorismus entbehren auf abenteuerliche Weise rationaler und realistischer Einschätzung. Sie gehören zu jener verlogenen Propaganda, die Rüstung und Krieg seit je her begleitet hat. Es gibt keinen Grund, sich mit den Regimen im Irak, in Afghanistan oder Nordkorea zu solidarisieren, auch keinen Grund, die atomare Rüstung Indiens, Pakistans oder Israels gut zu heißen. Doch zum einen, ist die reale Bedrohung für die USA und Westeuropa gering oder Null. Die militärische Überlegenheit der USA ist uneingeschränkt. Zum anderen ist es eben die Militärpolitik der NATO, vor allem ihrer Führungsmacht, die anderswo kopiert wird. Wie will die NATO, die im April 1999 in Ottawa (mit Zustimmung der deutschen Sozialdemokraten und Grünen) beschlossen hat, dass der völkerrechtswidrige Ersteinsatz von Kernwaffen sogar eines ihrer möglichen Mittel gegen die Weiterverbreitung von chemischen, biologischen und atomaren Massenvernichtungswaffen sein soll, anderen Staaten klarmachen, dass Kernwaffenbesitz illegitim ist. Es wird im Gegenteil durch die Rüstungs- und Militärpolitik der USA und der NATO die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen geradezu heraufbeschworen. Dass der Artikel 6 des Nichtweiterverbreitungsvertrages (Kernwaffenabrüstung durch die Nuklearmächte) auch in der Vergangenheit durch die USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und China missachtet worden ist, ohne dass die Nichtkernwaffenstaaten den Sperrvertrag gekündigt oder verlassen hätten, wird niemanden beruhigen können. Darüber hinaus dürfte man kaum in der Annahme irren, dass es die allgemeine Politik der westlichen Metropolenstaaten ist, die maßgeblich einen antiwestlichen Fundamentalismus erst hervorbringt. Jedenfalls werden die Gefahren durch NMD ohne Zweifel unvergleichlich größer sein als jene, die mit ihm angeblich abgewendet werden sollen.
Zweitens stellt die Realisierung des amerikanischen Raketenabwehrprojekts eine eindeutige Verletzung des sowjetisch-amerikanischen ABM-Vertrages von 1972 dar, der ein grundlegendes Element des gegenwärtigen Rüstungskontrollsystems ist. Seine von den USA unverblümt beabsichtigte Zerstörung wäre aber nicht nur ein Vertragsbruch, sondern würde mit größter Wahrscheinlichkeit auch eine neue Runde in der nuklearen Offensivrüstung auslösen. Denn natürlich muss die russische Politik davon ausgehen, dass NMD nicht der Abwehr einer virtuellen Bedrohung aus „Schurkenstaaten“, sondern einer alleinigen militärischen Hegemonie der USA dienen soll. Es spricht viel dafür, dass Russland nicht mit der US-amerikanischen Hightech-Rüstung in der Raketenabwehr und im Weltall mithalten kann. Russland bleibt aber die technisch und finanziell wesentlich weniger anspruchsvolle, gleichwohl aber sehr wirksame Möglichkeit, mit einer quantitativen Vergrößerung seines Nuklearpotenzials und anderen einfachen technischen Antworten ein nuklearstrategisches Patt in Form einer gegenseitigen atomaren Vernichtungsdrohung aufrechtzuerhalten. Neben der zahlenmäßigen Erweiterung des russischen Raketenarsenals kämen insbesondere U-Boot-gestützte Cruise Missiles dafür in Frage, die von dem geplanten Raketenabwehrsystem nicht bekämpft werden können. Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien hat zudem auch gezeigt, wie man die Hightech-Krieger dazu bringen kann, achtzig oder neunzig Prozent ihrer Waffen gegen Attrappen zu verschießen. In dieser Hinsicht muss sogar darauf hingewiesen werden, dass NMD ein illusionäres Projekt ist. Es wird auf jede Abwehrmaßnahme effektive und im allgemeinen billigere Angriffsantworten geben.
Beruhigend ist diese letzte Aussicht aber nicht, denn die geschilderten Gefahren bleiben bestehen und sind sehr ernst. Ohnehin liegt die Hauptgefahr auf einem anderen Gebiet. Vielleicht lässt sich ein erpressbares und erpresstes, allseitig geschwächtes Russland den ABM-Vertrag von der Bush-Regierung in der einen oder anderen Form sogar abkaufen. Offensichtlich wird auf beiden Seiten auch bereits an einem amerikanisch-russischen Deal gearbeitet. Die NMD-Rüstung wird dennoch unweigerlich den konfrontativen Charakter internationaler Sicherheitspolitik verstärken und kooperative oder gar zivile globale und europäische Sicherheitssysteme blockieren. Deshalb wird der Versuch Schröders, sich eilfertig an der amerikanischen Raketenabwehr zu beteiligen, letztlich nichts daran ändern, dass NMD „nicht mit Deutschland“ realisiert werden wird. „NMD“ bedeutet für die Bush-Administration und fast das gesamte amerikanische politische Establishment eben nicht „NATO Missile Defense“ oder gar „UN Missile Defense“, sondern mit allem amerikanischen Ernst „Nationale“ Raketenabwehr. Das rüstungstechnische Projekt und selbst die militärstrategische Absicht sind nicht einmal die primäre Seite von NMD. Es geht den USA um etwas bei weitem Grundsätzlicheres: um einen hegemonialen Unilateralismus. Die USA sind – mit den Worten Zbigniew Brzezinskis (1997) – als „erste und einzig echte“ Supermacht aus dem Kalten Krieg hervorgegangen und wollen diese Rolle auch gegenüber ihren Verbündeten, erst recht gegenüber allen anderen Staaten, voll ausspielen. Dem dürfen die NATO-Partner assistieren und zustimmen. Beteiligt sein werden sie praktisch nicht. Was Clinton hinsichtlich der UNO vor dem amerikanischen Senat erklärt hatte („Die UNO ist dort für uns wichtig, wo wir keine Interessen haben.“), wird nun zum Credo der gesamten amerikanischen Weltpolitik: Internationale Bindungen (wie der ABM-Vertrag) und multilaterale Problemlösungen (zum Beispiel über den UNO-Sicherheitsrat oder andere Elemente des UNO-Systems) werden so weit wie möglich abgelehnt. Nachdem die Clinton-Administration bereits versucht hatte, die internationale Konvention zum Verbot von Antipersonenminen zu verhindern, kündigten die Republikaner nun auch an, die Gründungsakte des Internationalen Strafgerichtshofs nicht zu ratifizieren. Auch aus den internationalen Anstrengungen zur Reduzierung der Treibhausgase hat sich die neue Administration zurückgezogen. Gemeinsam mit Großbritannien und mit „Verständnis“ des deutschen Außenministers bombardieren die USA den Irak. Mehr als Ziele dort zerstören sie endgültig die Rolle der UNO. Harald Müller (Vorsitzender der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) fasste diese Politik im „Friedensgutachten 2000“ zusammen: „Vom Seerecht bis zum Kyoto-Protokoll, von der Konvention über Artenvielfalt bis zur exterritorialen Anwendung von Handelsembargos gegen Kuba oder Iran, von den rabiaten Reformforderungen an die Weltbank und den Internationalen Gerichtshof: Amerikanischer Unilateralismus erscheint als ein die Weltpolitik durchdringendes, allgegenwärtiges Syndrom.“
Man kann es auch noch drastischer ausdrücken, und es war Clintons Außenministerin Madeleine Albright, die es dankenswerterweise getan hat: „Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann, weil wir Amerika sind. Wir sind die unverzichtbare Nation. Wir sind groß. Wir blicken weiter in die Zukunft.“ Der deutsche Außenminister gefiel sich bekanntlich im Schatten Albrigths (so wie er sich inzwischen an der Hand Colin Powells wohl fühlt). Wahrscheinlich blieb daher auch die Erhellung aus, die so eindeutige Worte bei weniger vernagelten Beobachtern auslöst. Die deutsche und die „europäische“ Politik versuchen stattdessen einerseits, die USA auf diesem Weg so lange und so brav wie möglich zu begleiten in der Hoffnung, sich ein Minimum an Einfluss zu erhalten. Andererseits soll die EU mit eigenen Rüstungsanstrengungen (EU-Interventionsarmee, Satellitensystem Galileo) und eigenen Anteilen an der Zerstörung der UNO selbst zum „global player“ werden. Abenteuerlich und bedrohlich sind beide Wege. Und illusionär! Sie ändern nichts am amerikanischen hegemonialen Unilateralismus, sondern bereiten ihm den Boden. Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, war in Bezug auf die anglo-amerikanischen Bombardements des Irak – ähnlich wie Joseph Fischer – bereits mit ganz und gar amerikanischer Diktion und allerdings europäischer Verbrämung zu hören: „Deswegen kann es nicht darum gehen, dass der Sicherheitsrat in jedem Fall entscheidet, sondern dass unter Achtung der Charta der Vereinten Nationen gehandelt wird. Ich glaube, hier muss man eine Differenzierung vornehmen.“ (1. März 2001) Der Unterschied zu den USA besteht darin, dass die bereit sind, ihre Ignoranz der UNO und der dem Völkerrecht zugrunde liegenden UN-Charta offen zu erklären, während die deutsche Politik noch versucht, diesen Bruch als „Achtung der Charta“ zu interpretieren.
Die Alternative zur deutschen Unterstützung für NMD ist klar: Renaissance, Stärkung und Demokratisierung der UNO, Erhaltung des ABM-Vertrages, radikale nukleare Abrüstung, kooperative globale Sicherheit als einzige echte Garantie gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Aber die Ehrlichkeit gebietet wohl, zu ergänzen, dass diese Alternative ebenso illusionär ist wie der deutsche Kanzlerwunsch, an der amerikanischen Vorherrschaft gleichberechtigt beteiligt zu sein. Optimistischeres? Auf Schröder, Merkel, Westerwelle und Fischer hoffe ich nicht. So lange nicht Zehntausende gegen die Militarisierung der EU, gegen die NATO-Strategie von Ottawa und gegen NMD auf die Straße gehen und ihr „Nicht mit Deutschland, nicht mit uns!“ rufen, wage ich keine Zuversicht.
Quelle:
„Das Blättchen“, 20. März 2001