Eine Mauer fällt

André Brie, Kolumne für Disput Dezember 2001

Keine Angst. Diese Mauer will ich nicht vergleichen mit jener aus Beton und Waffen, die von 1961 bis 1989 Berlin und Deutschland teilte. Aber die seit 1914/18 beiderseitig errichtete Mauer zwischen dem deutschen politischen Establishment, einschließlich der Sozialdemokratie, und der deutschen kommunistischen bzw. demokratisch-sozialistischen Linken war bei weitem älter und überdauerte den Betonwall um mehr als ein Jahrzehnt. Was jetzt geschieht, ist nicht mehr und nicht weniger als ihr Zusammenbruch, das überfällige Ende des kalten Krieges in Deutschland. Endlich kann auch die Mauer zwischen Ost und West abgetragen werden. Regierungsverantwortung zu übernehmen, ist gerade in Berlin eine extrem komplizierte, vielleicht auch riskante Aufgabe. Aber offensichtlich eine von historischem Ausmaß. Nicht kurzfristiges Parteiinteresse, sondern diese Verantwortung und die für einen sozial gerechten und zukunftsorientierten Ausweg aus dem finanz-, wirtschafts- und kulturpolitischen Desaster, das die CDU und die CDU-SPD-Koalition hinterlassen haben, leiten die PDS in Berlin.

Die Signalwirkung rot-roter Verhandlungen ist unverkennbar. Einerseits ist Berlin mit seiner nationalen wie internationalen Bedeutung sowie seiner Ost-West-Geschichte eben nicht mit Mecklenburg-Vorpommern oder einem anderen Bundesland zu vergleichen (es liegt mir aber fern, die erste rot-rote Landeskoalition seit 1923 oder gar meine mecklenburgisch-vorpommersche Heimat geringzuschätzen). Andererseits zeigt sich in der Bundeshauptstadt eine markante Entwicklung in der sozialdemokratischen Partei. Mag sein, dass Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, und mit ihm eine Anzahl anderer SPD-Politiker, von vornherein eine Koalition mit der PDS favorisiert haben und mit den Ampelgesprächen nur den Vorgaben des SPD-Chefs Gerhard Schröder folgten. Die jetzige Enttscheidung ist aber gerade deshalb für die zur Kanzlerpartei mutierte SPD alles andere als selbstverständlich gewesen. Tatsache ist nun, dass mit der Aufnahme der Koalitionsgespräche in Berlin die Regierungsfähigkeit der PDS kaum noch in Abrede gestellt werden kann. Die Akzeptanz der PDS ist deutlich gestiegen.

Ob die Berliner Koalitionsgespräche und vor allem die folgende Alltagspolitik erfolgreich sein werden, ist trotz des hohen Verhandlungstempos, des offensichtlich positiven Klimas zwischen den Akteuren und der bereits in einigen Fragen erreichten Ergebnisse offen. Niemand wird daran zweifeln, dass weder PDS noch SPD in den Verhandlungen Maximalforderungen durchsetzen können. Das bereits bestehende Schuldenloch von 80 Milliarden Mark und die weiteren zehn Milliarden Mark Defizit im kommenden Jahr setzen enge Grenzen, die beide Parteien nicht überspringen können. Viele politische Beobachter und Kommentatoren sehen gerade darin ein Problem für die PDS. Nun gehe es um Realpolitik und nicht nur um Reden von der Oppositionsbank, wird in teilweise hämischen Ton vorgebracht. Geflissentlich ignoriert wird dabei, dass die PDS gerade diese Realpolitik – und zwar eine mit erkennbar linker Prägung – in den vergangenen Jahren in Berlin erfolgreich praktiziert hat. Auch ihr diesjähriges Wahlprogramm, ihre Vorschläge zur Konsolidierung der Finanzen und andere politische Konzepte für Berlin sind (in bemerkenswertem Gegensatz zu vergleichbaren Papieren der anderen Berliner Parteien) von sachpolitischem Realismus und politischer Realisierbarkeit gleichermaßen gekennzeichnet.

Aber auch in der PDS selbst ist eine Regierungsbeteiligung nicht unumstritten. Erstens sind die schwerwiegenden, grundsätzlichen Differenzen zwischen SPD und PDS in der Bundespolitik zwar nicht unmittelbarer Gegenstand der Berliner Koalition, werden aber ohne Zweifel ein schwieriger Begleiter der gemeinsamen Landespolitik in den nächsten fünf Jahren sein. Zweitens könnte das Mittragen von Sparbeschlüssen das Image der Partei als einzige konsequent soziale Kraft beschädigen. Ich halte diese Sorgen für nicht unbegründet. Gregor Gysi, Carola Freundl, Stefan Liebich und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern kann ich in dieser Hinsicht nur Rückgrat, Ideen und einen beständigen guten Draht zu den Bürgerinnen und Bürgern, den Gewerkschaften, Verwaltungen und allen anderen Betroffenen wünschen. Hervorheben möchte ich aber nicht die Schwierigkeiten, sondern die Verantwortung und die Chancen für eine Politik, die das Ost-West-Gegeneinander überwindet, nachweist, dass soziale Gerechtigkeit modern ist und keine Frage von Schönwetterbedingungen sein muss sowie die Zukunfstorientierung und -fähigkeit linker Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftspolitik demonstriert. Ich verstehe dies als Wählerauftrag. Dabei steht die PDS stärker in Verantwortung als irgend eine andere Partei in vergleichbarer Situation. Aus diesem Grund müssen die Konzepte für die Lösung der Probleme in der Hauptstadt schlüssig, die Kompromisse mit der SPD tragfähig und die Personalbeschlüsse nicht nur auf der Senatorenebene und nicht nur für die Euphorie des Starts überzeugend sein.

Nach meiner Ansicht werden die Koalitionsgespräche in beiden Parteien ihre Spuren hinterlassen. Neben einem gewachsenen Selbstbewusstsein und -vertrauen dürfte in der PDS der Blick auf das politisch und wirtschaftlich Machbare und den Wert einer demokratischen Kultur geschärft werden. Das eigene Profil gegenüber der Sozialdemokratie wird sowohl durch Gemeinsamkeiten als auch durch Unterschiede bestimmt. Kooperations- und Koalitionsfähigkeit setzt voraus, das politische Anderssein aushalten und produktiv machen zu können. Dafür gibt es aber auch Grenzen, in der Bundespolitik vor allem die Haltung zu Krieg und Frieden.