Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte über Alternativen zum Krieg

Artikel von Sylvia-Yvonne Kaufmann, erschienen in Neues Deutschland, 23.10.2001

Seit der Schock über die Anschläge und die Trauer um die Opfer vom 11. September in den Hintergrund rücken, wird wieder deutlicher wahrgenommen, dass es nicht nur um Terrorismusbekämpfung geht, sondern dass internationale Politik Machtpolitik ist, wo politische und wirtschaftliche Interessen dominieren. Auch in der PDS, wo einige vorschnell meinten, ihr „altes Bild“ von Amerika überprüfen zu müssen, ist das wohl nicht mehr strittig. Anlass dazu bestand eigentlich nie, hatte doch Bush als Antwort auf die Terrorangriffe vom „ersten Krieg des 21. Jahrhunderts“, vom „langanhaltenden Feldzug“ gegen das „Böse“, ja von Vergeltung und Rache gesprochen, auch davon, Staaten zu „eliminieren“. Um Entschlossenheit zu demonstrieren, hatte der Präsident der US-Armee „jegliche Ressource, jede Waffe, jedes Mittel“ zugesagt. Es ist nicht antiamerikanisch, dies alles zu hinterfragen.

Die Anti-Terror-Allianz
Hurtig wurde unter amerikanischer Führung eine Allianz geschmiedet, frei nach dem Motto: Wer im Kampf gegen das Böse nicht für uns ist, ist gegen uns, und wer in der neu zu ordnenden Welt gut oder böse ist, das bestimmen noch immer die USA. Das war früher so, als die CIA die afghanischen Gotteskrieger und Osama bin Laden militärisch und moralisch gegen die sowjetischen Invasoren rüstete, und das ist heute so, wo mit der zwielichtigen afghanischen Nordallianz und dem pakistanischen Putschgeneral Musharraf Sandkastenspiele über die Nachkriegsordnung am Hindukusch betrieben werden. Ungebrochen ist das US-Interesse an den reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen in Aserbaidschan, Turkmenistan und Usbekistan, für deren Erschließung Afghanistan (wo es auch Erdgas gibt) als Transitland benötigt wird. Willkommen sind in der Allianz der „Guten“ fast alle, ob NATO-Partner mit „uneingeschränkter Solidarität“ oder „Schurkenstaaten“ wie der Iran, der die Hisbollah und die militanten Palästinensergruppen Dschihad und Hamas fördert. Jene, die Militärschläge gegen Afghanistan unterstützen oder dulden, bekommen auch etwas dafür: Das Militärregime in Islamabad erhält Kredite, die wegen der Atomrüstung verhängten Sanktionen werden aufgehoben. In Usbekistan wird die Gewaltherrschaft übersehen, weil es sich als Aufmarschgebiet für Bodentruppen anbietet. Russland, das in Tschetschenien (wie die USA jetzt in Afghanistan) die grausamen Streubomben einsetzte und Grosny dem Erdboden gleichmachte, sieht sich deswegen nicht mehr auf der Anklagebank. Es braucht zudem freie Hand im Nordkaukasus. China wurde nach langjährigen Verhandlungen nun rasch Mitglied der Welthandelsorganisation und kürzlich durch Präsident Bushs Besuch in Shanghai geadelt. Es muss sich nicht länger wegen Menschenrechtsverletzungen oder seinen Ungang mit muslimischen Separatisten aus den Nordwestprovinzen kritisieren lassen. US-Außenminister Powell brachte es auf den Punkt: Der globale Anti-Terror-Feldzug „könnte uns Türen zur Stärkung oder Umgestaltung der internationalen Beziehungen öffnen“. Da spielt für die Anti-bin-Laden-Allianz kaum eine Rolle, dass vom Krieg gegen Afghanistan ein Flächenbrand ausgehen kann, der Zentralasien mit dem explosiven Konfliktherd Kaschmir, den Nahen Osten, andere islamisch-arabische Staaten, ja selbst Indonesien mit seinem starken muslimischen Bevölkerungsanteil erfassen kann.

Der NATO-Bündnisfall
Im vorauseilenden Gehorsam hat die NATO erstmals den Bündnisfall ausgerufen, der manchem europäischen Strategen bereits Kopfzerbrechen bereitet, weil er ein riskanter Blankoscheck ist. Das Problem: Die USA können jederzeit militärische Unterstützung anfordern, die Beistandsverpflichtung gilt unbefristet und ohne Einschränkung, solange Washington dies wünscht. Kein Mitgliedstaat kann aussteigen, denn über die Beseitigung der Gefahr durch Terrorismus kann nur einstimmig entschieden werden. Vielleicht sogar wichtiger als der militärische ist der politische Zweck: Keine Kritik europäischer Partner an künftigen US-Militäreinsätzen, wann und wo immer sie im Anti-Terror-Kampf stattfinden. Selbst wenn bin Laden und einige Gefolgsleute ergriffen oder getötet würden, nährt der NATO-Beschluss nur die Illusion, terroristischen Selbstmordkommandos sei militärisch beizukommen. Das ist grob fahrlässig, weil dadurch dieser neue Terrorismus unterschätzt wird. Noch kennen wir nicht einmal genau seine verdeckt arbeitenden Strukturen und Verbindungswege, ja wir wissen nicht einmal, wer die Drahtzieher und Hintermänner sind, ob bin Laden überhaupt das letzte Glied in der Kette ist.

Krieg gegen Kabul
Eine gewaltige Militärmaschinerie hat Afghanistan umzingelt, um den von Präsident Bush als Topterroristen ausgemachten bin Laden tot oder lebendig zu fangen, seine dortigen Al-Qaida-Camps zu eliminieren und die Taliban-Regierung aus Kabul zu verjagen. Bodenspezialtruppen operieren schon in Afghanistan, weitere stehen Gewehr bei Fuß, auch deutsche könnten folgen. Wie die offiziell deklarierten Kriegsziele in Afghanistan verwirklicht werden sollen, bleibt jedoch unklar. Das Pentagon informiert zwar, aber erklärtermaßen desinformiert es mehr – angeblich um den Gegner zu täuschen, in Wirklichkeit, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Dennoch musste eingestanden werden, dass UNO-Mitarbeiter, immer mehr Zivilisten getötet, Krankenhäuser und Nahrungsmittellager von Bomben getroffen werden. Seit Beginn des Militäraufmarsches findet unter der ohnehin durch Hunger und die Taliban gepeinigte Zivilbevölkerung eine humanitäre Katastrophe statt. Sieben Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht. Es ist noch nicht lange her, da wurde die Bombardierung Jugoslawiens mit der Vertreibung der Kosovo-Albaner durch Serben begründet. Menschliche Wesen sind eben doch nicht gleich, in der Politik es gibt „nützliche“ und „weniger nützliche“.

Grüne Zwickmühle
Die PDS forderte den Bundeskanzler auf, bei Präsident Bush für einen Bomben-Stopp einzutreten. Versteckt hinter demselben Verlangen der UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson setzte sich auch die Grünen-Chefin Roth wortgewaltig dafür ein, um humanitäre Hilfe für Afghanistan zu ermöglichen. Der Kanzler drohte mit Richtlinienkompetenz, wobei nicht eindeutig ist, ob er seine oder die des US-Präsidenten meinte. Vielleicht hat Claudia Roth endlich gelernt, dass beides nicht zu haben ist: Weder ein bisschen Krieg, noch ein bisschen Frieden. Seit dem Golf- und Kosovo-Krieg ist überdies bekannt, dass es eine „chirurgisch“ genaue Treffsicherheit nicht gibt. Dennoch machten die Bündnisgrünen ihre Fortexistenz als Friedenspartei von der Zielgenauigkeit amerikanischer Geschosse, sprich geringen „Kolalateralschäden“, abhängig. Nun befinden sie sich in einer Zwickmühle.

Die UNO und das Recht
Bedauerlich ist, dass sich die UNO wegduckt. Das liegt daran, dass die USA nicht einmal im Traum daran denken, ihr als international wichtigstes Organ zur Bekämpfung des Terrorismus diese Aufgabe zu übertragen. Und es hat auch etwas damit zu tun, dass alle Ständigen Sicherheitsratsmitglieder in der Allianz der „Guten“ eingebunden sind. Zunächst hatte der Sicherheitsrat in Resolutionen zu einem umfassenden nichtmilitärischen Vorgehen gegen den Terrorismus (finanzielle Austrocknung, schneller Informationsaustausch, Zusammenarbeit bei der innenpolitischen Verfolgung von Terroristen) aufgerufen. Danach ist er von seiner Linie abgerückt, wonach die terroristischen Täter vor Gericht zu bringen sind. Mit der nachträglichen politischen, nicht formellen Billigung der Militärschläge wurden Geist und Buchstaben der UNO-Charta verletzt. Denn nach Artikel 51 fällt die Ermächtigung zu militärischen Maßnahmen in die Zuständigkeit des Sicherheitsrates. Die Luftangriffe sind nicht chartagemäß, auch für den Fall, dass der Sicherheitsrat übereinstimmend am 28. September eine Bedrohung des Friedens festgestellt hat. Eine Berufung auf Artikel 51 und die Einräumung des Rechts der USA und ihrer Verbündeter auf Selbstverteidigung setzt zwingend voraus, dass bin Laden über seine Helfershelfer die USA angegriffen hat. Es muss zugleich zweifelsfrei sein, dass sie von Afghanistan ausgebildet, entsandt oder ausgerüstet wurden. Im Klartext: Afghanistan muss erwiesenermaßen hinter den Anschlägen stecken. Diese Beweisführung steht nach wie vor aus. Bände spricht, dass sich der Innenminister Saudi-Arabiens bitter darüber beschwerte, dass Washington immer noch keine Beweise für die Beteiligung von mindestens zehn mutmaßlichen saudischen Attentätern vom 11. September vorgelegt hätte. Nach obigem Prozedere hat der eigentlich für die Aburteilung der internationalen Terroristen zuständige Internationale Gerichtshof in Den Haag 1986 in dem vergleichbaren Fall Nikaragua gegen die USA entschieden. Dieser Fall darf als Präzedenzfall betrachtet werden. So heißt es in Punkt 9 des Urteils: „Die Vereinigten Staaten von Amerika haben durch das Erstellen eines Handbuchs mit dem Titel ‚Operaciones sicológicas en guerra de guerillas‘ und seine Weitergabe an die Contra-Kräfte ihre Leitung ermutigt, Handlungen zu begehen, die gegen die allgemeinen Prinzipien internationalen Rechts verstoßen, jedoch findet (das Gericht – d.V.) keine Basis anzunehmen, dass derartige Handlungen, die begangen worden sein mögen, den Vereinigten Staaten von Amerika, als Handlungen der Vereinigten Staaten von Amerika, zugeordnet werden können“ (International Court of Justice, 27. 6.1986, General List No. 70, S. 137). Ob dies nun gefällt oder nicht, auch das nach innen gerichtete menschenverachtende Regime der Taliban reicht für militärische Maßnahmen ebenfalls nicht aus. Wäre dies ein Kriterium, dann müssten, zynisch formuliert, sehr viele Regimes auf dieser Welt „weggebombt“ werden. Tatsächlich besteht die ernst zu nehmende Gefahr, dass in dem Maße, wie Kriege als führbar angesehen und zum vorgeblich legitimen Mittel von Politik werden, das im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandene Völkerrecht, dessen Grundlage die UNO-Charta bildet, durch ein „Recht auf Krieg“, durch internationales Faustrecht ersetzt wird.

Die neue deutsche Rolle
Die terroristischen Drahtzieher haben den militärischen Gegenschlag auf Afghanistan, einen islamischen Staat, der den Muslimen weltweit nicht gleichgültig ist, gewiss einkalkuliert. Damit sind sie ihrem Ziel, eines umfassenden, religiös verbrämten Krieges der Kulturen und zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden ein weiteres Stück nähergekommen. Neue Anschläge sind bereits angekündigt. Sie lösen in den USA eine erhebliche Lähmung des öffentlichen Lebens und weltweit enorme Kosten für innere Sicherheit aus. Dabei ist noch gar nicht klar, ob die gemeldeten Bio-Attacken mit Anthrax-Erregern auf das Konto der Hintermänner der Anschläge vom 11. September gehen oder eher auf einen rechtsextremistischen Hintergrund in den USA zurückzuführen sind. Eines aber haben die Terroristen bestimmt schon erreicht. Sie haben durch die verbrecherische Dimension dieser Anschläge der Enttabuisierung des Militärischen in der internationalen Politik mit allen fatalen Konsequenzen im Hinblick auf Rüstung und Waffenexporten einen gewaltigen Schub versetzt. Es ist ihnen gelungen, dass von größeren Teilen der Öffentlichkeit (zumindest vorübergehend) dem Militärischen statt zivilen Lösungen mehr Akzeptanz entgegengebracht wird. Bundeskanzler Schröder nahm dies unter dem Beifall bündnisgrüner Betroffenheitsrhetorik in seiner jüngsten Regierungserklärung zum Anlass, um fünfzig Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte für abgeschlossen zu erklären und die militärische Option in den Kontext einer grundlegenden Neubestimmung von Deutschlands Rolle in der Welt zu stellen. Das ist gefährlich rückwärtsgewandt. Vergessen sollten wir daher nicht, dass es in Deutschland noch nie ein Zuviel an Pazifisten gegeben hat.

Zukunftsfähige Politik
Vor diesem Hintergrund ist nicht zu überschätzen, dass sich die PDS zukunftsfähige Politik ins Stammbuch geschrieben hat. In kritischer Analyse der internationalen Politik, auch eingedenk der im sozialistischen Namen erfolgten Militärinterventionen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Afghanistan sowie in Auseinandersetzung mit der militärisch geprägten Sicherheitskonzeption der SED bekräftigten wir in Münster, „aus der herkömmlichen politischen Logik des Denkens und Handelns in militärischen Abschreckungs-, Bedrohungs- und Kriegsführungskategorien auszubrechen und militärische Gewaltanwendung als Mittel der internationalen Politik strikt abzulehnen“. Die Terroranschläge vom 11. September bestätigten unser Herangehen, denn sie offenbarten das totale Scheitern eines Sicherheitsdenkens, das sich auf militärische Stärke und Überlegenheit in den Kategorien des Kalten Krieges stützt und den neuartigen Bedrohungen nichts entgegenzusetzen vermag. Weder modernste Waffen noch Raketenprogramme machten die verbliebene Supermacht sicherer. Mit dem Dresdener Friedensappell erneuerten wir unser Nein zu Militäreinsätzen. Uns werden zugleich konkrete Antworten abverlangt, z.B. wie Terroristen zu fassen sind, wie Terrorismus ausgemerzt werden kann, welche realistischen Alternativen es zum Krieg gibt. Verschiedene Ansätze wie die Schaffung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung zur Austrocknung von Terrorismus oder zur Stärkung und Reform der UNO finden sich in unserem Friedensappell. Aber das wird nicht ausreichen. Wir brauchen mehr professionelle politische Analysen und vor allem einen breiten Dialog mit der Friedensbewegung, mit Friedens- und Konfliktforschern des In- und Auslands, mit unterschiedlichsten Nichtregierungsorganisationen, mit Kirchen und Gewerkschaften, die sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigen. Nötig ist eine breitestmögliche gesellschaftliche Debatte, damit überzeugende Alternativen zum Krieg in der Bevölkerung mehr Attraktivität erlangen.

(Die Autorin ist Mitglied des Bundesvorstandes der PDS und stellvertretende Vorsitzende der GUE/NGL-Fraktion im Europäischen Parlament)

Dieser Aufsatz erschien leicht gekürzt in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ vom 23. Oktober 2001, Seite 6.