Nationalstaaten – Relikt aus alten Zeiten oder sinnvolles Gegengewicht zur grenzenlosen Globalisierung?
André Brie, 12. November 2001, Beitrag für das ‚Neue Deutschland‘, Donnerstagsdebatte ‚Nationalstaaten – Relikt aus alten Zeiten oder sinnvolles Gegengewicht zur grenzenlosen Globalisierung?‘
Die Globalisierung ist Realität und neoliberale Propaganda gleichermaßen. Beide Seiten werden von den nationalen Regierungen und internationalen Konzernen intensiv genutzt, um den Sozialstaat zu schleifen. Die Globalisierung ist jedoch ganz und gar nicht so weit und vor allem so umfassend vorangeschritten, wie es ihre Apologeten verkünden. In einigen Bereichen aber ist sie machtvolle Tatsache (Finanzbeziehungen, Wissenschaft und Technik, Informationsaustausch und andere Kulturbeziehungen sowie Herausbildung globaler menschlicher Existenzbedingungen). Es ist angebracht, diese Entwicklung mit dem Entstehungsprozess überregionaler Märkte und Ökonomien im 18. und 19. Jahrhundert zu vergleichen, deren Folge die sg. „National“Staaten waren. Den entfesselten Märkten des Manchesterkapitalismus rangen Arbeiterbewegung und andere politische und soziale Akteure in harten Kämpfen demokratische, gewerkschaftliche, soziale und andere Rechte ab. Ihre Plattform war der Staat. Nun droht der „laissez-faire-Kapitalismus“ hochmodern über die Globalisierung zurückzukehren. Der politische Raum für die Gegenkräfte und die Institutionalisierung von Gegenmächten – ein Weltstaat, eine Weltgesellschaft, eine entwickelte globalisierte politische Öffentlichkeit – ist jedoch gegenwärtig illusionär oder völlig unterentwickelt.
Die Rufe nach „mehr Nationalstaat“ in Europa scheinen vor diesem Hintergrund nur allzu berechtigt, aber wohl eine moderne Form der Maschinenstürmerei. Dass eine Renationalisierung den Ausweg darstellen könne, halte ich erstens deshalb für abwegig, weil die „national“staatliche Politik nicht besser, nicht weniger unsozial und nicht weniger neoliberal ist als die der EU. Im Gegenteil: Der Neoliberalismus und die einseitige Orientierung an Wirtschaftsinteressen gingen und gehen auch innerhalb der EU maßgeblich von den nationalen Regierungen aus (auf der Grundlage ihrer Entscheidungen ist die EU-Kommission jedoch zugegebenermaßen ein äußerst aktiver Akteur der Deregulierung). Wenn im EU-Ministerrat hinter verschlossenen Türen politische und wirtschaftliche Weichen gestellt werden, sitzen die Konzerne de facto mit am Tisch. Weshalb sollten gerade die europäischen Staaten, in denen derzeit ein Frontalangriff auf die dort – noch – vorhandenen sozialen und demokratischen Standards geführt wird, ihr Gewicht gegen die neoliberale Globalisierung in die Waagschale werfen? Ob die Kürzung von Sozialleistungen unter „New Labour“ in Großbritannien, die per Regierungsdekret verordnete „Flexibilisierung“ der Arbeitszeiten in Spanien oder die Beschneidung der staatlichen Altersversorgung zugunsten privater Vorsorge in Deutschland – letztlich geht es um den Abbau staatlicher Steuerungssysteme für ein „freies Spiel“ der Marktkräfte. Letztlich sind es die „National“Staaten selbst, die auf europäischer Ebene die Erosion sozialstaatlicher Modelle forcieren und dann mit dem Finger eben auf „Brüssel“ weisen.
Es wäre töricht, die Rolle der Staaten geringzuschätzen, aber für die Antworten auf die realen Seiten der Globalisierung sind sie unzureichend. Denn zweitens bin ich überzeugt, dass die eigentliche, aktuelle Alternative in supranationaler wirtschaftlicher und politischer Integration bestehen könnte, wie sie die Europäische Union verörpert. Sie könnte – ich muss beim Konjunktiv bleiben – der Raum für die Verteidigung und zukunftsorientierte Neudefinition des westeuropäischen Sozialstaats sein. Die gemeinsame Souveränität der EU-Staaten ist gesamtwirtschaftlich wesentlich stärker als die jedes europäischen „National“Staats: Während die Außenwirtschaftsabhängigkeit der EU nur 8 – 10 Prozent beträgt, variiert sie bei den einzelnen Mitgliedstaaten zwischen 25 und 53 Prozent. Wird der osteuropäische Raum in diese makroökonomische Kooperation einbezogen, so gewinnt die EU tatsächlich jene wirtschaftspolitische Souveränität zurück, die die Einzelstaaten zu einem guten Teil verloren haben. Die EU könnte mit einer binnenwirtschaftlichen Industrie-, Struktur-, Umwelt- und Beschäftigungspolitik sowie mit der Harmonisierung der Unternehmens- und Vermögensbesteuerung und einem föderalen Finanzausgleich die Handlungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates wiederherstellen.
Das und die damit verbundenen Möglichkeiten europäischer Demokratisierung und wirksamer Beiträge zur Überwindung von Unterentwicklung und zu einem globalen ökologischen Umbau sind eine europäische Chance. Die Realität ist eine andere. Die wirtschaftsliberale Richtung der weltweiten Integration und Wirtschaftsvernetzung finden in der EU ihre Entsprechung. Eine Besonderheit dabei ist, dass sich die „Entmächtigung“ des Nationalstaates sogar an einem Begriff fest machen lässt: Brüssel. „Brüssel“ trifft Entscheidungen, „Brüssel“ normiert die Waren in allen EU-Mitgliedsstaaten, „Brüssel“ schafft grenzübergreifend gültige Regelungen, „Brüssel“ zieht in der Wirtschafts- und Finanzpolitik die Fäden. Abgesehen davon, dass sich hinter „Brüssel“ gleich mehrere EU-Institutionen verbergen und die nationalen Regierungen den Kurs vorgeben, steht die belgische Hauptstadt als Synonym für eine Integration, die den Bürgern kaum Mitsprache gewährt und die vor allem von den Interessen multinationaler Konzerne bestimmt wird.
Ich meine aber, es kann und es darf kein Zurück geben. Und wenngleich die heutige Militarisierung der EU ein sicherheitspolitisch falscher Kurs ist, wird niemand leugnen, dass die Integration Europas durchaus ein Element der Stabilität auf dem Kontinent darstellt. „Wenn nicht mehr die Fahrräder über die Grenze rollen können, rollen bald die Panzer darüber hinweg“, sagte einst Bertolt Brecht. Sicherlich: Die demokratische und die soziale Bilanz der EU ist bisher mager. Noch schlechter ist nur die Bilanz bei der Verteidigung sozialer Errungenschaften innerhalb der „National“Staaten. Ein doppeltes Problem ist auf europäischer Ebene ungelöst und seine Lösung wirklich schwierig: Es fehlt ein gemeinsamer und es fehlt ein demokratisierter politischer Raum für die erforderlichen übernationalen sozialen und politischen Kämpfe. Umso wichtiger erscheint es mir, auf europäischer Ebene eine handlungsfähige Zivilgesellschaft zu schaffen, zum Beispiel die vom französischen Intellektuellen Pierre Bourdieu betriebenen europäischen Sozialstände. Gegenbewegung, eine politische Öffentlichkeit, soziale und politische Kämpfe waren im 19. Jahrhundert in den Nationalstaaten, sind heute auch im Rahmen der EU Voraussetzung für die erforderlichen Demokratisierungsprozesse und die Re-Regulierung des Kapitalismus.