Brüsseler Devise gegenüber EU-Beitrittsländern: Take it or leave it
André Brie am 13. November 2001, in Straßburg
In den am Dienstag vorgelegten Fortschrittsberichten zur EU-Erweiterung hat die Europäische Kommission den Beitrittsstaaten große Anstrengungen zur Vorbereitung der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft attestiert. Glaubt man den Dokumenten, laufen die Erweiterungsverhandlungen als fairer Prozess. Die Fakten sprechen aber eine andere Sprache:
Nach wie vor führt die EU die Beitrittsverhandlungen insbesondere mit den osteuropäischen Kandidatenländern nach dem Dominanz-Prinzip. Die Ziele, Interessen und Erfahrungen der Beitrittsländer haben sich den vor allem wirtschaftlich dominierten Absichten der EU unterzuordnen. „Take it or leave it“ lautet die Devise aus Brüssel. Sonderbedingungen für neue Mitgliedsstaaten, die bei früheren Erweiterungsrunden noch an der Tagesordnung waren, werden von der EU weitgehend abgelehnt. Selbst bei Übergangsfristen, wie bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer, werden primär die Interessen der EU oder einzelnen Mitgliedsländer zugrunde gelegt.
Nach wie vor werden die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen, die der Anpassungsprozess an die EU-Standards in den Beitrittsländern hervor ruft, ignoriert. Die wirtschaftliche und soziale Kluft zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern droht noch tiefer zu werden. Zudem werden sich soziale Spaltungsprozesse in den Beitrittsländern verstärken. Konzepte, um diese Entwicklung zu stoppen, liegen bisher nicht auf dem Tisch. Schon heute ist die Grenze zwischen Deutschland und Polen jene mit dem größten Wohlstandsgefälle weltweit.
Nach wie vor fordert die EU die Vorbereitung der Beitrittsländer auf die Mitgliedschaft, bleibt ihren eigenen Beitrag aber schuldig. Die Reform von Institutionen und Mechanismen blieb auf dem Nizza-Gipfel in den Kinderschuhen stecken, die Demokratisierung der EU ist weiter nur ein Randthema, die Bürger werden in den Erweiterungsprozess kaum einbezogen. 71 Prozent der Deutschen fühlen sich laut einer Eurobarometer-Umfrage schlecht über die Erweiterung informiert.
Nach wie vor fehlen den Beitrittskandidaten eine klare Perspektive und eine konkrete Zeitschiene für die Aufnahme. Für den Fortgang des Erweiterungsprozesses ist dies aber unerlässlich. Schon heute sinkt angesichts des Lavierens in Brüssel die Zustimmung unter der Bevölkerung in den Beitrittsländern zur EU-Mitgliedschaft.
Um die EU-Erweiterung zu einem Faktor der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Stabilität in Europa werden zu lassen, müssen die Interessen und Rechte der Beitrittsländer stärker Eingang in die Beitrittsverhandlungen finden. Gefordert sind zudem Anstrengungen zur Schaffung einer europäischen Sozialunion, die auch die osteuropäischen Staaten einschließt. Nicht zuletzt müssen Demokratie und Bürgerbeteiligung sowohl in der EU wie in den Aufnahmestaaten gestärkt werden.