Lissabon fördert Deregulierung statt Beschäftigung

Zu den Ergebnissen des EU-Sondergipfels in Lissabon (23./24.3.2000) erklärt der beschäftigungspolitische Sprecher der PDS-Europagruppe, André Brie MdEP:

Die Bilanz des EU-Sondergipfels ist in weiten Teilen negativ: Lissabon war ein Gipfel der Deregulierung. Beschäftigung und sozialer Zusammenhalt spielten entgegen den großspurigen Ankündigungen der Kommission und der portugiesischen Ratspräsidentschaft kaum eine Rolle. Das Ziel der Regierungschefs ist eine „New Economy“ nach US-amerikanischem Vorbild. Das neue Leitbild für Europa ist die Unternehmergesellschaft: Die öffentlichen Ausgaben sollen zur „Stärkung der Kapitalakkumulation“ umdirigiert werden. Risikokapital, kapitalgedeckte Altersvorsorge, dynamischere Unternehmen sind die Stichworte. Im Mittelpunkt der Initiativen des Rats steht ein nochmals verschärfter Wettbewerb im E-Commerce, ein integrierter und weiter deregulierter europäischer Finanzmarkt, die Liberalisierung der Gas-, Elektrizitäts-, Post- und Transportwirtschaft, des Luftverkehrs und der lokalen Telekommunikationsmärkte. Damit dominieren die Themen des Cardiff-Prozesses: weitere Liberalisierungsinitiativen im europäischen Binnenmarkt.

Die neue Zielvorgabe für ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent ist nicht mit der Perspektive einer ökologische tragfähigen Wirtschaftsweise verbunden. Der in Lissabon verkündeten Innovationspolitik fehlt jeglicher sozial-ökologische Gestaltungsanspruch. Der Rückfall in angebotsorientierte High-Tech-Gläubigkeit ist ein Zeichen von Zukunftsvergessenheit, nicht Zukunftsfähigkeit.

Die neue Strategie der EU kann das Versprechen der Vollbeschäftigung nicht erfüllen. Schon die bisherige Liberalisierungspolitik hat den Wettbewerb und die Fusionitis angeheizt. Hunderttausende Arbeitsplätze wurden vernichtet. Der Energiebinnenmarkt zerstört nach gewerkschaftlichen Schätzungen kurzfristig rund 250 000 Arbeitsplätze in der EU. Die marktgetriebene „Informationsgesellschaft“ war bisher ein Jobkiller: in der Elektronikindustrie und in der Telekommunikationsbranche fielen mehr Arbeitsplätze weg, als bei Softwarefirmen, Medien und Mobilkommunikation neu entstanden. Allein für Deutschland betragen die Arbeitsplatzverluste zwischen 1988 und 1997 per Saldo rund 160 000 Stellen. Das Wachstum des Business to Business E-Commerce wird einen noch schärferen Preis- und Kostenwettbewerb anheizen. Für die Internetökonomie insgesamt gilt, dass das Umsatzwachstum sich zunehmend vom Beschäftigungswachstum abkoppelt. Die Hoffnungen auf E-Commerce als Jobmaschine für Europa sind unbegründet. Fatal ist, dass die Regierungschefs keine andere Strategie für mehr Beschäftigung erkennen lassen.

Beschäftigung und Sozialpolitik – Fehlanzeige

Der Luxembourg-Prozess zur Beschäftigungspolitik verfällt in Stagnation. Er erhält eine deutliche Schlagseite hin zur Förderung eines Niedriglohnsektors (persönliche Dienstleistungen, Förderung der Arbeitsaufnahme in gering entlohnten Jobs durch die Steuerpolitik). Die groß angekündigte Initiative zum „sozialen Europa“ hat nicht stattgefunden: „Modernisierung der Sozialsysteme“, „Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ – alles Fehlanzeige. Bis auf wenige vage Formulierungen wurde die Sozialpolitik auf die mit Spannung erwarteten Empfehlungen der „Arbeitsgruppe hochrangiger Experten zum Sozialschutz“ abgeschoben.

Die Kommission, Frankreich und einige skandinavische Länder hatten im Vorfeld des Gipfels für verbindliche beschäftigungspolitische Teilziele geworben (Senkung der Erwerbslosenrate in der EU auf 4 % bis 2010, verbindliche Ziele für die Reduzierung der Frauen-, Jugend- und Langzeiterwerbslosigkeit). Die portugiesische Ratspräsidentschaft wollte die Beseitigung der Kinderarmut in der EU bis zum Jahr 2010 zu einem sozialpolitischen Konvergenzziel erheben. Selbst diese moderaten Vorschläge wurden abgebügelt.

Der Kurs des „Dritten Weges“ und der „Neuen Mitte“ hat sich damit auf breiter Front durchgesetzt. Frankreich und die skandinavischen Länder haben in Lissabon deutlich an Einfluss verloren. Sie wollten 1997 mit dem Luxembourger Beschäftigungsgipfel eine neue Balance zwischen erfolgreicher Wirtschaftspolitik, mehr Beschäftigung und einem höheren Sozialschutzniveau herbeiführen. Dieser Trend ist jetzt gestoppt. Tony Blair hat sich erfolgreich als Rammbock der Neuen Mitte betätigt, um die politischen Gewichte zu verschieben. Seine gemeinsame Initiative mit dem konservativen spanischen Regierungschef José Maria Aznar für mehr Liberalisierung im Binnenmarkt hat das Ergebnis deutlich geprägt. Die gemeinsame Initiative mit dem italienischen Regierungschef Massimo D´Alema für eine stärkere Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und eine strafende Arbeitsmarktpolitik war zwar nicht so erfolgreich. Dank Blairs Schützenhilfe konnten Gerhard Schröder und Romano Prodi jedoch in der Mitte durchmarschieren und eine ambitioniertere Beschäftigungs- und Sozialpolitik blockieren. Die Mehrheit der Mitte-links-Regierung propagiert jetzt die Vision eines Europas der Börse, der Finanzmärkte und der marktgetriebenen Internet-Revolution.

„Vollbeschäftigung“ ohne sozialen Gehalt

Stolz wird für 2010 das Ziel der „Vollbeschäftigung“ verkündet. Doch die Orientierungsmarke dafür ist eine Beschäftigungsquote von 70 % wie in den USA (Anteil der Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren an der Gesamtbevölkerung). In den USA gibt es allerdings auch jetzt noch keine Vollbeschäftigung. Ihre Erwerbslosenrate betrug zwischen 1995 und 1999 im Schnitt 5,1 %, die der EU fast das Doppelte. In den USA wie in Portugal gilt eine Person schon als „erwerbstätig“, wenn sie nur 2 Stunden pro Woche beschäftigt ist. Auf dieser Basis ist die „Beschäftigungsquote“ nicht sehr aussagekräftig. „Vollbeschäftigung“ wie in den USA ist zudem mit einer starken sozialen Polarisierung verbunden. Eine kleine Elite hat hochqualifizierte Jobs und hohe Einkommen, eine breite Masse muss mehrere schlecht bezahlte Jobs ausüben, die zusammen kaum ein existenzsicherndes Einkommen ergeben. Die soziale Seite der Vollbeschäftigung haben die Regierungschefs überhaupt nicht im Blick: sinnhafte und angereicherte Tätigkeiten, Aufteilung von Erwerbsarbeit und Haus- und Erziehungsarbeit zu gleichen Teilen zwischen Frauen und Männern, auskömmliche Einkommen, sozial- und tarifvertragliche Schutzrechte, ökologisches Wirtschaften, demokratische Teilhabe am Wirtschaftsgeschehen.

Von selbst wird die Mehrheit der Regierungschefs die Anliegen der Zukunftsfähigkeit, einer emanzipatorischen Vollbeschäftigungspolitik und einer solidarischen Erneuerung des europäischen Sozialmodells kaum mehr aufgreifen – soviel scheint nach Lissabon sicher. Europas Bürgerinnen und Bürger müssen aus der Zuschauerdemokratie heraustreten und selbst für ihre Interessen streiten. Die PDS wird aktiv daran mitarbeiten, eine europaweite sozial-ökologische Reformbewegung aufzubauen. Erste Ansätze einer Zusammenarbeit von Erwerbslosenbewegungen, Gewerkschaften, Kirchen etc. zu gemeinsamen Aktionen bei den französischen EU-Gipfeln sind ermutigend. Der Soziologe Pierre Bourdieu verfolgt aktiv das Projekt einer europaweiten Vernetzung der verschiedenen Bewegungen.

Außerparlamentarischer Druck ist nötig, damit die kommende französische Präsidentschaft überhaupt eine Chance erhält, sozial- und beschäftigungspolitische Akzente wieder stärker in der EU zu verankern. Auch im Europäischen Parlament werden wir Druck machen, dass die wenigen positiveren Ansätze des Lissabonner Gipfels in zukunftsfähige und ausreichend finanzierte Projekte umgesetzt werden (z.B. neue Basisqualifikationen für die „Wissensgesellschaft“, schnelleres Internet für Wissenschaft und Studierende, neue Zielwerte für verbesserte Kinderbetreuungseinrichtungen, Förderung von Jobrotation). Das „neue Europa“ muss sozial und ökologisch werden, um zukunftsfähig zu sein.