Welcher Weg für eine moderne Sozialpolitik?

Klaus Dräger

EUROPÄISCHE SOZIALPOLITISCHE AGENDA 2000 – 2005

Frankreichs Regierung, allen voran Lionel Jospin und seine Sozialministerin Martine Aubry, drängt darauf, die Europäische Sozialpolitische Agenda beim EU-Gipfel in Nizza auf den Weg zu bringen. Dazu hat die Europäische Kommission gesetzgeberische Aktivitäten für den Zeitraum 2000 bis 2005 vorgestellt. Unter wohlklingenden Überschriften wie „Vollbeschäftigung, Qualität der Arbeit, qualitative Sozialpolitik und Sozialpartnerschaft“ fordert sie eine Koordination der Sozialpolitiken der Mitgliedsstaaten, die in einigen ausgewählten Bereichen gemeinschaftsweit organisiert werden soll. Regierungen, Europäisches Parlament, Gewerkschaften und Unternehmerverbände sollen bei der „Modernisierung des Europäischen Sozialmodells“ zusammenarbeiten. In einigen Bereichen könnte so durchaus eine positive Entwicklung eingeleitet werden: Überwindung der Armut, Verhinderung von sozialer Ausgrenzung, eine Antidiskriminierungspolitik zugunsten älterer Menschen, ImmigrantInnen, Behinderter oder von Schwulen und Lesben.

Ansonsten zielt die „Modernisierung des Sozialschutzes“ eher in eine neoliberale Richtung: „Arbeits- und Gesundheitsschutzbestimmungen vereinfachen“, „die Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte fördern“, „neue flexible Arbeitsformen unterstützen“, die „langfristige Bezahlbarkeit der Renten im Blick halten“, „freiwillige Mechanismen zur Mediation bei Arbeitskämpfen und industriellen Konflikten anschieben“. Der Tenor geht jedoch in Richtung unternehmerfreundliche Flexibilisierung des Arbeitslebens und der Sozialsysteme. Alle „harten Fragen“ – z.B. gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, lebensbegleitendes Lernen und berufliche Weiterbildung usw. – werden an Verhandlungen zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften delegiert. Für das Programm der „sozialpolitischen Agenda“ sollen lediglich bestehende Förderinstrumente „effektiver genutzt“ werden.

Martine Aubry, die im Oktober 2000 die Regierung verlassen wird, fordert hingegen, stärker auf die Rolle des Non-Profit-Sektors und der Sozialwirtschaft einzugehen, die Funktion öffentlicher Dienste im allgemeinen Interesse in der Sozialpolitik sowie den Arbeits- und Gesundheitsschutz stärker herauszustellen und die Vorschläge zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung konkreter zu machen. Ob die französische EU-Präsidentschaft die Kommission und die Regierungen der anderen Mitgliedstaaten von ihren weitergehenden Vorstellungen überzeugen kann, ist unsicher. Präsident Jacques Chirac ist mehr an den Themen des Nizza-Gipfels „Reform der EU-Institutionen“ und „Sicherheitspolitik“ interessiert. So werden Gewerkschaften, Sozialinitiativen und europäische Linksparteien durch eigene Aktionen ein politisches Klima schaffen müssen, damit der soziale Fortschritt in Europa nach dem Ministeriumswechsel in Frankreich nicht unter die Räder kommt. n

Die Forderungen der europäischen Linken an die französische Ratspräsidentschaft sind Thema einer Klausurtagung der GUE/NGL-Fraktion Ende September in Toulouse.