Europäische Beschäftigungspolitik
Lissabon fördert Deregulierung statt Beschäftigung
Der im März in Lissabon durchgeführte EU-Sondergipfel versuchte, ein breites Themenspektrum zu einer gemeinsamen Strategie der EU zusammenzufassen: „Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und sozialer Zusammenhalt – auf dem Weg zu einem Europa der Innovation und des Wissens“. Das neue Ziel lautet, die USA bei der Entwicklung der Internet-Wirtschaft und des elektronischen Handels „zu überholen, ohne sie einzuholen“. Das angestrebte Wirtschaftswachstum von 3 Prozent und die Innovationspolitik wurden nicht mit der Perspektive einer ökologisch tragfähigen Wirtschaftsweise verbunden. Als Jobmaschine für Europa ist der elektronische Handel denkbar ungeeignet. In der Elektronikindustrie und in der Telekommunikationsbranche fielen bisher mehr Arbeitsplätze weg, als bei Softwarefirmen, Medien und Mobilkommunikation neu entstanden. Allein für Deutschland betragen die Arbeitsplatzverluste zwischen 1988 und 1997 per Saldo rund 160.000 Stellen. Lissabon war ansonsten im wesentlichen ein Gipfel der Deregulierung. Das neue Leitbild für Europa ist die „Unternehmergesellschaft“: Die öffentlichen Ausgaben sollen zur „Stärkung der Kapitalakkumulation“ umdirigiert werden. Risikokapital, kapitalgedeckte Altersvorsorge, dynamischere Unternehmen sind die Stichworte. Im Mittelpunkt der Initiativen des Rats steht ein integrierter und weiter deregulierter europäischer Finanzmarkt, die Liberalisierung der Gas-, Elektrizitäts-, Post- und Transportwirtschaft, des Luftverkehrs und der lokalen Telekommunikationsmärkte. Doch wie soll eine Deregulierungspolitik zur angestrebten „Vollbeschäftigung“ beitragen können, wenn sie in der Vergangenheit eher Hunderttausende Arbeitsplätze vernichtet hat?
In der Beschäftigungspolitik gibt es kaum neue Ansätze. Sie erhält eine deutliche Schlagseite hin zur Förderung eines Niedriglohnsektors (persönliche Dienstleistungen, Förderung der Arbeitsaufnahme in gering entlohnten Jobs durch die Steuerpolitik). Die Kommission, Frankreich und einige skandinavische Länder hatten im Vorfeld des Gipfels für verbindliche beschäftigungspolitische Teilziele geworben (Senkung der Erwerbslosenrate in der EU auf 4 % bis 2010, verbindliche Ziele für die Reduzierung der Frauen-, Jugend- und Langzeiterwerbslosigkeit).
Die portugiesische Ratspräsidentschaft wollte die Beseitigung der Kinderarmut in der EU bis zum Jahr 2010 zu einem verbindlichen Ziel erheben. Selbst diese moderaten Vorschläge wurden abgebügelt. Bis auf wenige vage Formulierungen wurde die Sozialpolitik auf einen Bericht der „Arbeitsgruppe hochrangiger Experten zum Sozialschutz“ und auf die künftige französische Ratspräsidentschaft abgeschoben. Damit Frankreich das „soziale Europa“ überhaupt wieder in die Diskussion bringen kann, müssen sich Europas Gewerkschaften, Erwerbslosenverbände und linke Bewegungen wohl noch erheblich anstrengen.