Zerschlissener Mantel
Als ich am 1. Februar 1990 mit der Idee „Deutschland einig Vaterland“, angelehnt an den Text der DDR-Hymne, vor die Öffentlichkeit trat,
meinte ich es auch so. Ganz anders als diejenigen, die zehn Jahre später darum zanken, wer auf der Festveranstaltung zum Einheitstag
reden soll. Manch einer der Ostdeutschen würde mich gern unter den Festredner sehen, doch danach steht mir nicht der Sinn.
Ehrengast in Dresden wird Michail Gorbatschow sein – fernbleiben wird Helmut Kohl.
Mit dem einen, Gorbatschow, hatte ich den Stufenplan zur Vereinigung der beiden souveränen deutschen Staaten im Rahmen des
europäischen Prozesses beraten und dessen Zusimmung gefunden. Der andere, Kohl, holte sich ein paar Tage später in Moskau die
grundsätzliche Zustimmung für den Verbleib des vereinten Deutschlands in der NATO, womit die USA zufriedengestellt waren
Der „Mantel der Geschichte“, den sich Kohl, Genscher und ihre Gönner damals umhängten, ist zerschlissen, die Vereinigung ist zum
Anschluss verkommen, das Fenster der deutschen Einheit wurde zur Einstiegluke in die Erweiterung der NATO nach Osten. Das größer
gewordene Deutschland hat mit der Aggression gegen Jugoslawien den Krieg wieder zu einem Mittel der Politik gemacht.
Die Befürchtung, die Oder-Neiße-Grenze könnte eine erneute Teilung Europas markieren, hat sich bewahrheitet. Trotz oder gerade
wegen der Erweiterungsstrategie der EU, die à la DDR auf Unterwerfung abzielt, entstehen in Osteuropa neue soziale Spannungen, die
Haltung des Westens gegenüber Russland erinnert fatal an die Zeiten des kalten Krieges. Nichts spricht dafür, dass aus den Fehlern,
die beim Zusammennageln statt Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten gemacht wurden, die richtigen Lehren gezogen
wurden. Die Quittung wird nicht ausbleiben, die Konsequenzen werden nicht nur für die künftigen EU-Mitglieder, sondern auch für die
Alt-EU-Länder schmerzlich sein.
Die deutsche Einheit ist eine geschichtliche Tatsache und eine historische Herausforderung: Die Deutschen sind aufgerufen, ein
friedlicher Nachbar zu sein, nicht Ansprüche an den anderen zu erheben, sondern Partner zu sein für wirtschaftliche Stabilität und
sozialen Frieden gerade im komplizierten Prozess der Osterweiterung der EU. Deutschland soll nicht Schulmeister sein, sondern
Gleicher unter Gleichen, „nicht über und nicht unter andern Völkern wollen wir sein“, heißt es in Brechts Kinderhumne. Das verlangt, im
eigenen Land gelebtes Leben zu achten, unterschiedliche Biographien und Identitäten zu respektieren und der politisch-juristischen
Hexenjagd abzuschwören. Vielleicht kann es dann doch „Deutschland einig Vaterland“ heißen.