Die Europäische Union auf dem Weg zur Militärmacht
Sylvia-Yvonne Kaufmann auf der Veranstaltung ´Europa schaffen – mit oder ohne Waffen?´ von Déi Lénk am 7. 11. 2000 in Esch, Luxemburg
Seit wenigen Jahren vollzieht sich die Militarisierung der Europäischen Union in einem rasanten, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Tempo. Im Maastricht-Vertrag von 1992, mit dem die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) geschaffen wurde, hieß es noch in Artikel J.4, dass zur GASP „auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte“. Sehr schnell war weder von „könnte“ noch von „Verteidigung“ die Rede.
Wie sich die EU im Rahmen der GASP zur Militärmacht entwickeln soll, ist in einem umfänglichen Positionspapier enthalten, das der damalige niederländische EU-Kommissar Hans van den Broek, zuständig für äußere Angelegenheiten, Anfang 1995 für den Außenpolitischen Ausschuss des Europaparlaments erarbeitet hatte. Die Union benötige, heißt es darin, eine „angemessene Kombination von Diplomatie und der Fähigkeit zur Projektion militärischer Gewalt“. Zur Rechtfertigung dieses Kurses werden in dem Papier äußere Gefahren beschworen, die Europa bedrohen würden. Europa befinde sich im Zentrum einer „geopolitischen Veränderung“, die eine neue Weltordnung hervorbringe. Als potentielle Gefahren beschrieben werden unter anderem Russland, das einstige Einflussgebiete zurückgewinnen wolle, ein sich auf dem Balkan entfesselnder Nationalismus, politische, wirtschaftliche und demographische „Ungleichgewichte“ im Mittelmeerraum, die einer „Zeitbombe“ glichen sowie Terrorismus, Drogenhandel und illegale Einwanderung. Vor diesem Hintergrund bestehe die wichtigste Aufgabe darin, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU mit „militärischen Instrumentarien“ auszustatten, eine „europäische Eingreiftruppe“ aufzubauen. In dem Papier wird abschließend gefordert, die Zersplitterung der Rüstungsindustrie in der EU zu überwinden, sie mit Blick auf die amerikanische konkurrenzfähig zu machen.
1997 folgte der Amsterdamer Vertrag. Aufgenommen wurden in den EU-Vertrag die sog. „Petersberger Aufgaben“, d.h. die EU übernahm, was die Verteidigungsminister der Westeuropäischen Union (WEU) für diesen Militärpakt schon 1992 als neue sicherheitspolitische Aufgaben beschlossen hatten. Nachzulesen in Artikel 17 des EU-Vertrages: „Humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen.“
Endgültig fielen die Würfel zur praktischen Umsetzung all dessen im Dezember 1999 in Helsinki. Die EU-Staats- und Regierungschefs vereinbarten dort, dass die Europäische Union künftig auch ohne Rückgriff auf USA und NATO die Fähigkeit erlangen soll, baldmöglichst in und außerhalb Europas selbständig Militäroperationen durchzuführen. Geplant dafür ist die Aufstellung hochmobiler Interventionstruppen mit einer Kampfstärke von 50 000 bis 60 000 Mann. Sie sollen mit modernsten Präzisionswaffen wie Marschflugkörpern, Laserbomben und sogenannten Video-Raketen ausgerüstet werden. Europa müsse, so Verteidigungsminister Scharping und Außenminister Fischer, in die Lage versetzt werden, „Krisen, die uns unmittelbar betreffen, gemeinsam zu bewältigen, auch wenn sich die transatlantischen Partner nicht daran beteiligen“.
Politischer Kern der Beschlüsse von Helsinki ist Punkt 27 der Schlussfolgerungen des Rates:
„Die EU muss in der Lage sein, autonom Beschlüsse zu fassen und in den Fällen, in denen die NATO als Ganzes nicht einbezogen ist …EU-geleitete militärische Operationen einzuleiten und durchzuführen“.
Das bedeutet im Klartext:
Selbstmandatierung von Militärinterventionen;
Militärinterventionen auch ohne USA-Beteiligung;
keine regionale Begrenzung militärischen Agierens.
Die praktische Umsetzung der Beschlüsse von Helsinki soll rasch erfolgen. Dazu wird in den Anlagen der o.g. Schlussfolgerungen ausgeführt, dass:
effiziente militärische Fähigkeiten „mit oder ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“ entwickelt werden sollen;
die Streitkräfte militärisch durchhaltefähig sein und über die notwendige Streitkräfteführung und strategische Aufklärung, die entsprechende Logistik, Kampfunterstützungsdienste sowie zusätzliche See- und Luftstreitkräfte verfügen müssen;
Mittel für die Überwachung und strategische Frühwarnung entwickelt, ein europäisches Lufttransportkommando geschaffen, schnell verlegbare Truppen zahlenmäßig verstärkt, die strategische Seetransportkapazität verbessert werden sollen;
die industrielle und technologische „Verteidigungsgrundlage Europas“ durch Umstrukturierung der europäischen Rüstungsindustrie und die Harmonisierung der europäischen Rüstungsplanung und -beschaffung ausgebaut werden soll.
Beachtenswert sind die in Punkt 28 enthaltenen Formulierungen, die ebenfalls Aufschluss über die Neubestimmung des künftigen Verhältnisses der EU zu USA und NATO geben:
„Unter Berücksichtigung der Erfordernisse aller EU-Mitgliedstaaten werden Regelungen für eine umfassende Konsultation und Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO und für die Transparenz in deren gegenseitigen Beziehungen entwickelt.“
Im Gegensatz zu den Festlegungen in der neuen NATO-Strategie von Washington (das ist noch nicht lange) ist an keiner einzigen Stelle der Beschlüsse von Helsinki die Rede davon, dass die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als „europäischer Pfeiler der NATO“ entwickelt werden soll. Die Formulierung „Erfordernisse aller EU-Mitgliedstaaten“ weist allerdings auf nach wie vor bestehende politische Interessendivergenzen zwischen verschiedenen EU-Staaten (insbesondere Großbritannien und Frankreich) in bezug auf die Frage der transatlantischen Bindung hin. Zugleich wird aber mit den Begriffen „Konsultation“ und „Transparenz“ unmissverständlich signalisiert, dass militärisch Eigenständigkeit gegenüber den USA angestrebt wird.
Bedeutsam sind die Helsinki-Aussagen zur UNO. In Punkt 26 wird ausgeführt, dass die EU lediglich „im Einklang mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zum internationalen Frieden und zur internationalen Sicherheit“ beitragen will und bei der Bestimmung ihrer Politik von einer „vorrangigen Verantwortung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens“ ausgeht.
Damit bringen die EU und ihre Mitgliedstaaten im Kern ihre Bereitschaft zum Ausdruck, künftig ungeachtet der völkerrechtlichen Prinzipien des Verbots der Anwendung und Androhung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen, der Achtung der Souveränität und Gleichberechtigung der Staaten militärisch zu agieren. Regierungsoffiziell fallengelassen wurde sogar die bisher übliche Sprachregelung von einer „vorrangig“ zivilen Konfliktbeilegung. In den Beschlüssen von Helsinki wird ganz offen von einer Gleichrangigkeit militärischer und nichtmilitärischer Mittel zur Konfliktbeilegung ausgegangen. Vereinbart wurde, „parallel“ zur militärischen Krisenbewältigung einen neuen eigenständigen Mechanismus zur nichtmilitärischen Krisenbewältigung zu schaffen (einschließlich eigener nichtmilitärischer Polizeikräfte).
Politisch bemerkenswert ist schließlich die in Punkt 27 enthaltene Feststellung, dass die Schaffung autonomer EU-geführter Krisenstreitkräfte „nicht die Schaffung einer europäischen Armee“ impliziert. Mit dieser Formulierung sind verschiedene Aspekte verbunden. Sie zeigt 1. an, dass es unter den EU-Mitgliedstaaten noch keinen Konsens über eine Vergemeinschaftung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt. D.h., es gibt keine Bereitschaft zur Aufgabe nationaler Souveränität in Sicherheits- und Verteidigungsfragen und zur Übertragung militärpolitischer Kompetenzen auf die EU-Ebene. Die hoheitsrechtliche Verfügungsgewalt über das Militär verbleibt bei den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Damit kann sich 2. das NATO-Mitglied Dänemark, dessen Bevölkerung im Referendum zum Maastrichter -Vertrag ein sog. opt-out im Hinblick auf die Bildung einer europäischen Armee erstritten hat, darauf zurückziehen, seine bisherige Position gewahrt zu haben. Dies können 3. auch die neutralen EU-Staaten für sich reklamieren, da die Bildung der EU-Krisenstreitkräfte auf der Grundlage des Prinzips der Freiwilligkeit beruhen soll. 4. bleibt anzumerken, dass mit dem „Freiwilligkeitsprinzip“ im Grunde eine neue institutionelle Regel eingeführt wurde. In den im Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag war die sog. Flexibilitätsklausel aufgenommen worden, die Entscheidungen der 15 EU-Mitglieder ermöglicht, auch wenn einzelne Staaten an bestimmten EU-Politiken nicht teilnehmen wollen.
Was bedeutet das nun politisch? Das bedeutet erstens, dass die bislang zivile EWG und heutige Europäische Union in eine Militärunion umgewandelt wird. Und zweitens geht es hier nicht um eine „Verteidigungsunion“ im klassischen Sinn, sondern unmissverständlich um eine „Interventionsunion“.
Verheerend ist, dass dabei die „Erfahrungen“ der NATO aus dem Krieg gegen Jugoslawien Pate stehen. Wie die NATO beabsichtigt auch die EU, sich künftig selbst das Mandat für Militäroperationen zu geben, wenn diese für notwendig erachtet werden. Die vorbeugende nichtmilitärische Krisenbewältigung wird in den Hintergrund gerückt.
In der Tat wurde der Kosovo-Krieg der NATO zum Geburtshelfer der europäischen Interventionsarmee. Dazu wird in einer Analyse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung von Juli diesen Jahres klipp und klar festgestellt: „Schon 1998/99 waren also wichtige Fundamente gelegt, um der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik neuen Schwung zu verleihen. Doch dann kam ein Ereignis hinzu, das der eigentliche Anlass zur Beschleunigung des Prozesses wurde: der Kosovo-Krieg.“ Beklagt wird in dieser Studie, dass über 90% der Angriffe auf Jugoslawien von US-Kampfjets geflogen wurden und die „Europäer“ fast vollständig von der amerikanischen Aufklärung abhängig waren. Zudem bestimmten die USA und nicht ihre europäischen Bündnispartner die zu bombardierenden Ziele in Jugoslawien. Daraus sei die Schlussfolgerung zu ziehen, so heißt es in der Studie weiter, dass sich die EU zu einem „außen- und weltpolitisch handlungsfähigen Akteur“ auf der internationalen Bühne entwickeln müsse, der autonom, also unabhängig von den USA, agieren können muss.
Dass es dabei eindeutig um militärische Intervention und nicht um Verteidigung des Territoriums der EU bzw. ihrer Mitgliedstaaten geht, macht ein Papier deutlich, das von den Planungsstäben des deutschen und französischen Außenministeriums unter dem Titel „Ein Europa mit dreißig und mehr Mitgliedern“ erarbeitet wurde. Wörtlich heißt es darin: „Seit dem Ende des kalten Krieges hat sich die sicherheitspolitische Lage der EU fundamental geändert. Derzeit ist keine existenzielle militärische Bedrohung des Gebiets der EU sichtbar.“ (S.31) Vielmehr wird auf diffuse sicherheitspolitische Risiken hingewiesen und der Krieg gegen Jugoslawien als -so wörtlich- „Beschleuniger“ des Aufbaus einer europäischen Streitmacht benannt. Der hohe Grad der „Abhängigkeit der EU von den USA im Bereich der militärischen Informations- und Einsatzmittel“ müsse beseitigt werden. Darüber hinaus wird das Szenario einer sicherheitspolitischen Konkurrenz zwischen der EU und den USA entworfen. In dem erwähnten Papier wird dazu festgestellt: „Militärtechnisch wird Europa zwar in absehbarer Zukunft nicht mit den USA gleichziehen können. Die EU sollte aber ihren Status einer asymmetrischen Macht‘ dahin korrigieren, daß ihr Einfluß in den klassischen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik mehr ihrem wirtschaftlichen Gewicht entspricht“ (S. 31).
Diese Entwicklung in Richtung Verselbständigung der Europäischen Sicherheits- und Kriegsführungsstrukturen wird in den USA argwöhnisch beurteilt. 1998 noch hatte die Clinton-Administration festgelegt, dass es keine Duplizierung des NATO-Potentials, keine Diskriminierung und besonders keine Abkopplung von NATO-Strukturen geben dürfe. Die Post-Kosovo-Realität sieht mittlerweile aber ganz anders aus. So wird in den genannten Beschlüssen von Helsinki die autonome Handlungsbereitschaft der EU-Truppe „in und um Europa“ ausdrücklich festgeschrieben. Die damit einhergehende sicherheitspolitische Abkoppelung der EU von den USA birgt langfristig die Gefahr in sich, dass die Konkurrenz zwischen diesen beiden Weltwirtschaftsblöcken in Konfrontation umschlagen könnte. Deshalb wurden wohl auch die Warnungen aus Washington schärfer. So erklärte US-Verteidigungsminister Cohen in einem Interview: „Der Sinn der ESDI (der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität) ist es zu handeln, wenn die Nato dies nicht will. Doch eine eigene separate, unabhängige, autonome Organisation wird sehr wohl das transatlantische Band schwächen. Das sollten wir vermeiden. Deshalb haben wir die Europäer sogar ermutigt. Aber: Bitte keine eigene Sicherheitsbürokratie, keine Strukturen, die mit Nato-Verpflichtungen kollidieren.“ (Süddeutsche Zeitung, 5./6. Februar 2000) Und der stellvertretende US-Außenminister Talbot meinte zuvor: „Wir möchten keine ESDI erleben, die erst in der Nato entsteht, dann aus der Nato herauswächst und dann sich von der Nato fortbewegt.“ (Süddeutsche Zeitung, 9. Dezember 1999)
Genau das aber findet statt, und die Bundeswehrreform von Rudolf Scharping ist ein Schritt in diese Richtung. Als eine Hauptaufgabe der künftigen Bundeswehr wird die „Krisenbewältigung“ benannt. Deutschland soll etwa ein Fünftel der EU-Streitkräfte stellen. Das Einsatzgebiet soll sich zunächst „auf Europa und seine Peripherie“ beschränken. Einsatzkräfte müssen „gegebenenfalls innerhalb weniger Tage im Einsatzgebiet bereitstehen und bis zu mehreren Jahren durchhaltefähig sein“ heißt es in: „Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert – Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf“.
Drei zu erfüllende „internationale Verpflichtungen“ werden postuliert: 1. Maßnahmen im Rahmen der Nato, 2. stand-by-arrange-ments für die UNO (wie kürzlich von Scharping in New York der UNO zugesagt) und 3. -als wichtigste Aufgabe- der Aufbau leistungsfähiger Einheiten, die der EU im Bedarfsfall unterstellt werden können. Um diese „Aufträge“ erfüllen und um die Mittel für die qualitative Aufrüstung bereitzustellen zu können, müssen die Kosten für Personal massiv gesenkt werden.
Für uns als PDS ist es daher wichtig, in unserer Kritik nicht allein auf Wehrpflicht und Reduzierung der Personalstärke der Bundeswehr zu schauen, sondern die geplanten Umstrukturierungen der Bundeswehr klar als das zu benennen, worum es geht: Die Bundeswehr soll zu einer internationalen Interventionstruppe -unter welchem Mandat auch immer- ausgebaut werden.
In den nächsten Jahren werden deshalb klassisch konventionelle Rüstungsprojekte, wie die Panzerabwehrrakete Pars, ebenso zurückgefahren wie die Mannstärke der nicht in die Krisenreaktionskräfte eingebundenen sog. Hauptverteidigungsstreitkräfte. Darauf zielt die neue Struktur der Bundeswehr. Bisher sind von einer Gesamtmannschaftsstärke von etwa 317 000 Soldaten, 189 000 Berufs- und Zeitsoldaten, 20 500 freiwillig längerdienende Wehrpflichtige, 105 500 Grundwehrdienstleistende und 2000 Wehrübende. Bis zum Jahre 2010 soll die Mannschaftsstärke auf etwa 280 000 Soldaten sinken, davon aber 200 000 Berufs- und Zeitsoldaten, 27 000 freiwillig längerdienende Wehrpflichtige und nur noch 53 000 Grundwehrdienstleistende. Die Zahl der Krisenreaktionskräfte soll von bisher 66 000 auf 150 000 aufgestockt werden. An dieser Umstrukturierung lässt sich ablesen, dass -obwohl die Gesamtmannschaftsstärke zurückfahren werden soll- die Orientierung der Bundeswehr auf eine Interventionsarmee zunimmt, denn die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten, die über 95% der Krisenreaktionskräfte stellen, wird deutlich erhöht, während der Zahl der Grundwehrdienstleistenden mit 53 000 fast nur noch symbolische Bedeutung zukommt. Diese werden dann vorrangig zu Verteidigungszwecken eingesetzt werden. Man kann hier also mit Fug und Recht von einer qualitativen Aufrüstung sprechen. Darüber hinaus werden alle Rüstungsprojekte, die zur Erfüllung internationaler Interventionen von Bedeutung sein könnten, ausgebaut, wie etwa der Aufbau einer eigenen europäischen Satellitenaufklärung. Diese Maßnahmen werden derzeit noch zögerlich betrieben. Der Hauptteil der durch den Abbau von Personal und konventioneller Rüstung für Auseinandersetzungen in Kriegsszenarien aus dem Kalten Krieg frei werdenden Gelder fließt in Projekte des deutschen Beitrags zum Aufbau der „EU-Interventionsarmee“.
Die Abschaffung der Wehrpflicht und die Verminderung der Gesamtmannschaftsstärke in anderen EU-Staaten, wie jüngst in Italien und vor geraumer Zeit in Frankreich, ist in eben diesen Zusammenhang einzuordnen und mitnichten ein Beitrag zur internationalen Abrüstung. Durch Kostenreduzierungen an Personal und Outsourcing bestimmter Dienstleistungsbereiche der Armeen sollen finanzielle Kapazitäten für qualitative Aufrüstungsprojekte freigesetzt werden, die notwendig sind, um für die EU mittelfristig autonome Interventionskapazitäten bereitzustellen.
Aber noch schießen hier die Bäume erfreulicherweise nicht in den Himmel. Wie der Direktor des Internationalen Instituts für Strategische Studien in London (IISS), John Chipman, eingestand, gibt es derzeit „wenig Hinweise darauf, dass die europäischen Finanzminister und Parlamente bereit sind, der europäischen Verteidigung die nötige finanzielle Unterstützung zu geben“. (Sächsische Zeitung vom 20. Oktober 2000) Die EU-Eingreiftruppe, so Chipman, werde möglicherweise zwar auf dem Papier, nicht jedoch tatsächlich bis 2003 in der nötigen Qualität aufgestellt sein. Schuld daran seien „das langsame Tempo der Umstrukturierung und der Mangel an finanziellen Zusagen.“ Insgesamt liegen die „Verteidigungsausgaben“ Westeuropas bei derzeit 174 Milliarden US-Dollar, während die USA 283 Milliarden ausgeben.
Stark beunruhigend ist die Tatsache, dass es im Grunde keine parlamentarische Kontrolle beim Aufbau der EU-Interventionsarmee gibt, weder durch die nationalen Parlamente noch durch das Europaparlament. Ja es kann zu Situationen kommen, in deren Folge das nationale Entscheidungsrecht und damit das parlamentarische Veto-Recht sogar im Ernstfall, also beim Einsatz von Streitkräften, ausgehebelt wird. Mit Recht kritisierte die FDP-Fraktion im Bundestag, dass der Bundestag über Einsätze des Krisenreaktionskorps (KSK) oft noch nicht einmal im nachhinein informiert würde. Auch die jetzt von Minister Scharping zugesagten stand-by-arrangements für die UN sollten eigentlich in jedem Falle parlamentarischer Kontrolle unterliegen. Selbst die CSU sprach hier von einem Schritt der Entwicklung der Bundeswehr von einer „Parlamentsarmee“ zu einer „Ministerarmee“. Und auf europäischer Ebene ist, wie gesagt, die parlamentarische Kontrolle des Aufbau der EU-Interventionsstreitmacht bislang völlig ausgeschaltet. Alle drei in Helsinki beschlossenen militärpolitischen Gremien -1. der Ständige Ausschuss für politische und Sicherheitsfragen, 2. der Militärausschuss und 3. der Militärstab- werden innerhalb des Rates geschaffen, d.h. ihr Agieren und ihre Entscheidungen stehen außerhalb jeglicher parlamentarischen Kontrolle.
Zum besseren Verständnis dieser schwierigen Problematik möchte ich darauf hinweisen, das die Außen- und Sicherheitspolitik der EU-Mitgliedstaaten, anders als beispielsweise die Währungs-, die Binnenmarkt- und die Agrarpolitik, nicht „vergemeinschaftet“ ist und durch die Regierungen „intergouvernemental“ an den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament vorbei koordiniert wird. Die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament sind nicht an den Diskussions- und Entscheidungsprozessen beim Aufbau der EU-Armee beteiligt. Das Europäische Parlament kommt bisher lediglich in den „Genuss“, Javier Solana als Mister GASP anzuhören und in allgemeinster Form über die Entscheidungen des Europäischen Rates von Helsinki diskutieren zu dürfen. Obwohl das EP ansonsten quer durch Fraktionen und oft mit großen Mehrheiten dafür streitet, seine Rechte gegenüber der Kommission und dem Rat auszudehnen, ist in den sicherheits- und militärpolitischen Fragen Funkstille festzustellen. Noch nie in der parlamentarischen Geschichte sind die Exekutiven bei Militärangelegenheiten auf so wenig Widerstand oder zumindest Anspruch der Parlamente gestoßen wie gegenwärtig bei der Aufstellung einer europäischen Interventionsarmee. „Wer die Protokolle über die entsprechenden Auseinandersetzungen zwischen Reichstag und Bismarck liest, könnte einer hoffnungslosen Nostalgie erliegen,“ meinte dazu mein Kollege André Brie (MdEP) mit bitterer Ironie im Plenum des Europäischen Parlaments.
Auf jeden Fall wird der Dezember-Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs in Nizza darüber entscheiden, ob der Plan, eine 60 000-Mann starke Truppe bis 2003 aufzustellen, eingehalten werden kann oder nicht. Die derzeitige französische EU-Präsidentschaft hat die Mitgliedstaaten aufgerufen, auf einer Konferenz am 20. und 21. November ihre militärischen Verpflichtungen für die EU-Armee zu deklarieren. Danach wird klarer sein, wie weit der Aufbau der europäischen Interventionsstreitmacht konkret vorangeschritten ist.
Zusammenfassend ist also feststellen:
Die Schaffung eigener militärischer EU-Interventionsstreitkräfte stärkt nicht den Frieden in Europa, sondern gefährdet ihn.
Durch die Militarisierung wird der Charakter der EU von einem zivilen Staatenverbund hin zu einer Militärunion verändert.
Da Außen- und Sicherheitspolitik in einer Hand konzentriert werden, ist eine institutionalisierte Militarisierung der Außenpolitik die zwangsläufige Folge. Zivile Krisenprävention läuft Gefahr, in den Hintergrund zu treten.
Das Projekt der EU-Interventionsarmee wird durch die notwendigen Rüstungen immense Ressourcen verschlingen, wobei das Ziel, militärische Kapazitäten zu schaffen, die mit den USA gleichziehen könnten, auf lange Sicht eine Illusion bleibt. An die Stelle von Abrüstung tritt massive Umrüstung.
Der Aufbau der europäischen Interventionsstreitmacht ist Ausdruck und Produkt eines neuen Blockdenkens. Es besteht die Möglichkeit, dass Europa mit unvorhersehbaren Folgen sicherheitspolitisch auf Distanz zu den USA geht.
Der Aufbau der EU-Armee vollzieht sich unter Missachtung der UN-Charta, denn es sind Einsatzplanungen vorgesehen, in denen weder Selbstverteidigung noch Militäreinsätze nach Kapitel VII der UN-Charta die Grundlage bilden. Dies führt zur Zerstörung des in der UNO-Charta fixierten Gewaltverbots in den internationalen Beziehungen und begünstigt ein neues internationales Wettrüsten.
Auch die atomare Aufrüstung hat jetzt neue Begründungen, nämlich Kapazitäten aufzubauen, um sich vorgeblich gegen die Gefahr einer Intervention mit atomaren Waffen zur Wehr setzen zu können. Nicht zu vergessen: Frankreich und Großbritannien sind Atommächte.
Angesichts all dessen muss die Linke ein deutlich hörbares Stoppzeichen setzen. Wir müssen klar sagen: Wir wollen ein ziviles Europa und keine „Interventionsunion“. Wir wollen, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten das oberste Gebot der UN-Charta – keine Androhung oder Anwendung von Gewalt – ohne Wenn und Aber einhalten. Die Linke muss den Kampf um den Erhalt der EU als Zivilmacht führen, die Militarisierungsprozesse entlarven und ein Wende hin zu Friedens-, Abrüstungs- und Entwicklungspolitik einfordern.
Seit dem Ende der Ost-West-Blockkonfrontation ist es in Europa notwendig und möglich, von einem militärisch determinierten Sicherheitskonzept zu einem zivil orientierten Sicherheitssystem überzugehen. D.h., zu einem Sicherheitssystem, das bei den ökonomischen, sozialen, ökologischen, ethnischen und kulturellen Ursachen von Konflikten ansetzt und sowohl absehbaren als auch akuten Konfliktsituationen in Europa präventiv, deeskalierend und ursachenorientiert begegnet. Deshalb gehören Nato und WEU aufgelöst. Die großen Potenzen der OSZE müssen endlich ausgeschöpft werden, ihr sind die adäquaten materiellen und finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen. Notwendig ist auch, deutlich mehr Mittel für Friedens- und Konfliktforschung und die Friedenserziehung bereitzustellen.
Dies und vieles anderes mehr muss sich die antimilitaristische und pazifistische Linke auf ihre Fahnen schreiben. Es ist in der Tat nicht leicht, sich gegen den gesellschaftlichen mainstream, der die Anwendung militärischer Gewalt zu Lösung von Konflikten als „normal“ ansieht, zu stellen. Aber wer, wenn nicht wir Linken, wird es tun?