Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Europäischen Union und der Tschechischen Republik
Erklärung von von Dr. Hans Modrow
Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechische Republik sind durch die Geschichte Mitteleuropas und durch eine gemeinsame Zukunft in der Europäischen Union auf besondere Weise verbunden. Zudem gebietet die Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen eine Politik vertrauensvoller Zusammenarbeit. Für die Verwirklichung der Prinzipien der Gleichberechtigung, des gegenseitigen Nutzens, der echten Integration und der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung in Europa kann die weitere Gestaltung der Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien beispielhaft werden. Die gegebenen Möglichkeiten, die gewachsenen Chancen und auch die vorhandenen Risiken veranlassen mich, meine Vorstellungen zur Gestaltung der Beziehungen darzulegen:
I. Chance für Gestaltung der Beziehungen
Das politische Klima zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik ist für die Erweiterung der EU und den Prozess der Zusammenarbeit in Europa von großer Bedeutung. Es war in den vergangenen Jahren allzu sehr und allzu oft durch politische Störungen geprägt, die geschürt wurden durch Bestrebungen, historische Entwicklungen umzudeuten, die Verbrechen Nazi-Deutschlands gegenüber der tschechischen Bevölkerung zu bagatellisieren und die aus der Geschichte erwachsene besondere Verantwortung Deutschlands für die Gestaltung der Zusammenarbeit beider Staaten durch anachronistische Forderungen zu verdrängen.
Die Erweiterung der EU um die Tschechische Republik ist für Deutschland die Chance, die Beziehungen zu Tschechien neu zu gestalten und dem Wiederaufleben alter Tendenzen der Ungleichheit und des Strebens nach Dominanz einen Riegel vorzuschieben. In diesem Sinne sollte die Bundesregierung allen Versuchen insbesondere seitens der Vertriebenenverbände entschieden entgegentreten, eine Politik des Ausgleichs und der guten Nachbarschaft zu stören oder zu verhindern.
II. Wider historische Umdeutungen
Die Vorstellung, dass sich für die Tschechische Republik die Tür zur EU nur um den Preis der Umschreibung der eigenen Geschichte öffnen könne, muss sowohl für Tschechien als auch für die Bundesrepublik undenkbar sein. Es gehöre zur gutnachbarschaftlichen Verständigung, betonte Richard von Weizsäcker, keine Veränderungen der Geschichte zu Lasten heutiger menschlicher Existenzen anzustreben.
Wer in gefährlicher Verkennung und Verkehrung von Ursache und Wirkung von einer „Blutspur des Unrechts“ spricht, welche die Vertreibung der Sudentendeutschen nach dem Kriege hinterlassen habe, wer erklärt, nicht auf das „Recht auf Heimat“ verzichten zu können, der ist auch in seiner Beteuerung nicht glaubhaft, keine Rachegelüste gegenüber den Nachbarvölkern zu hegen. Das Beharren der Sudetendeutschen auf einem „Recht zur Rückkehr in Eigentum“ ist purer Revanchismus.
Die Versuche der historischen Umdeutung begnügen sich nicht mit Vorgeschichte und Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges, sondern stellen in bezeichnender Anmaßung die Gründung der Tschechoslowakischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg als Fehlleistung der Geschichte dar und damit die Existenzberechtigung der heutigen Tschechischen Republik in Frage. Die Dekrete des Präsidenten Bene wurden zwar durch die tschechische Seite als erloschen erklärt, sie sind und bleiben jedoch historischer Bestandteil der Rechtsordnung der Tschechischen Republik. Sie beruhen auf dem Potsdamer Abkommen und dem Abkommen der Pariser Reparationskonferenz vom 21. Dezember 1945, das damals auch von der Tschechoslowakei unterzeichnet worden ist. Darin wird unter anderem erklärt: „Jede Signatarregierung kann unter ihrer Rechtshoheit befindliches deutsches Vermögen in einer durch sie gewählten Form einbehalten, um zu verhindern, dass es in deutschen Besitz oder unter deutsche Kontrolle zurückkehrt.“ Die Abschaffung der Dekrete hätte weitreichende rechtliche, finanzielle und politische Konsequenzen und stellte die Nachkriegsordnung in Frage.
Von Bedeutung ist auch die im Juli diesen Jahres veröffentlichte diplomatische Note der USA-Regierung, durch die Washington die Gültigkeit der Enteignungen der Sudetendeutschen sowie die bestehenden tschechischen Reparationsansprüche an Deutschland bestätigt. Angesichts all dessen ergibt sich für die Bundesregierung die Notwendigkeit, sich entschieden gegen die Versuche des Missbrauchs der EU-Erweiterung zu wenden, um Ursachen und Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung zu revidieren. Die offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in der es bei der Aussiedlung der Sudetendeutschen von tschechischer Seite auch Gewalttaten gegeben hat, wofür sich Präsident und Regierung der Tschechischen Republik entschuldigt haben, darf jenen Kräften nicht die geringste Chance bieten, die revanchistische Forderungen aufmachen.
Die deutsche Politik sollte sich davor hüten, sich die Forderungen der Sudentendeutschen Landsmannschaft zu eigen zu machen. Deutschland hat sich in der deutsch-tschechischen Erklärung vom 27.1.97 de facto dazu verpflichtet, keinerlei Ansprüche zu erheben. Diese Zusage darf die Bundesrepublik nicht de jure zu unterlaufen trachten. In dieser Frage wie überhaupt in der Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien sollte sich die Bundesrepublik an der Zukunft und nicht an der Vergangenheit orientieren. In diesem Sinne unterstütze ich das Schreiben der beiden tschechischen Parlamentarier Jan Zahradíl , Vorsitzender der ständigen Delegation zu EP, und Vladimir Lastuvka, stellvertretender Vorsitzender der ständigen Delegation zum EP, vom 31. August 2000 an die Mitglieder des Europäischen Parlaments.
III. Solidarische Unterstützung bei EU- Beitritt erforderlich
Die Erweiterung der Europäischen Union ist eine allseitige Herausforderung an die Staaten Europas, an jene, die beitreten wollen, wie an jene, die bereits in der EU versammelt sind. Europa muss ein Kontinent werden, auf dem die Menschen- und Minderheitenrechte sowie die Grundrechte gewahrt sind, die soziale Gerechtigkeit verwirklicht wird, ein gemeinsamer Wirtschafts- und Sozialraum geschaffen und die gleichberechtigte solidarische Zusammenarbeit aller europäischen Staaten entwickelt wird. In diesen Prozess ist auch die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik eingebettet.
Die Bestrebungen von Staaten Mittelosteuropas, durch den Beitritt zur EU Anschluss an das in Westeuropa vorhandene wirtschaftliche, ökologische und soziale Niveau zu finden, werden sich nur dann erfüllen, wenn bereits im Vorfeld des Beitritts die notwendigen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Beitrittsländer gleich-berechtigt integriert werden. Was dringend – entgegen der bisherigen EU-Politik – erforderlich ist, ist eine solche wirtschaftliche Unterstützung, um die Beitrittsländer in die Lage zu versetzen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken sowie den Ausverkauf nationaler ökonomischer Substanz und den Verlust ihrer nationalen Identität zu stoppen.
Die Bemühungen der Tschechischen Republik um Beitritt in die EU bietet der Bundesrepublik neue Möglichkeiten, mit dem Nachbarstaat eine Politik zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik und der Tschechischen Republik zu betreiben. Die wirklichen Herausforderungen für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Tschechien und Deutschland verlangen, das Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern beider Staaten auf der Grundlage wahrer Versöhnung und des gegenseitigen Respekts zu entwickeln. In einem Europa, das sich der Gleichberechtigung und der guten Nachbarschaft sowie der Zusammenarbeit seiner Staaten verschrieben hat, ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien von besonderer Bedeutung. Es hat angesichts der Vergangenheit einen Symbolwert. Symbolhaft sollte auch die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland und der an Tschechien grenzenden deutschen Bundesländer Bayern und Sachsen sein.
Die Zusammenarbeit zwischen Tschechien und Deutschland muss tief im Alltag verwurzelt werden und den Interessen der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet sein. Gerade in Gebieten in Nähe der Grenze und in den zu Tschechien benachbarten Bundesländern sollte die Zusammenarbeit auf allen Gebieten weiter entwickelt werden und dem Ziel gewidmet sein, der Tschechischen Republik Hilfe und Unterstützung für den Beitritt zur EU zu gewähren .Die enge Zusammenarbeit sollte sich in Gebieten, die sich in den deutsch-tschechischen Euroregionen zu Gebietsgemeinschaften zusammengefunden haben, in besonderem Maße entwickeln.
IV. Förderung der Zusammenarbeit
Die heute ungeachtet aller Vernachlässigungen oder Versäumnisse in der Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien umfangreicher gegebenen Möglichkeiten müssen als Chancen partnerschaftlicher Beziehungen erkannt und genutzt werden. Dies sollte sich auf alle Gebiete der politischen, wirtschaftlichen, ökologischen oder kulturellen Bestrebungen beider Staaten richten. Das hieße
im außenpolitischen Bereich
gemeinsame Abrüstungsinitiativen, insbesondere Initiativen zur Schaffung eines atomwaffenfreien Korridors in Mitteleuropa
Abstimmung von Grundsätzen eines gesamteuropäischen Sicherheitskonzepts und gemeinsamer Schritte zur Weiterentwicklung der OSZE
Schaffung eines ständigen nichtoffiziellen Forums von Experten beider Staaten zu Fragen der Außenpolitik unter Nutzung des Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds und vorhandener Gesprächsforen
Intensivierung der Zusammenarbeit des Parlaments der Tschechischen Republik und des Bundestags sowie regionaler Vertreterkörperschaften und Intensivierung der Zusammenarbeit entsprechender gemeinsamer Arbeits- bzw. Freundschaftsgruppen
auf wirtschaftlichem Gebiet
Vereinbarung eines speziellen Regierungsabkommens zur Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen der ostdeutschen Bundesländer mit der Tschechischen Republik
Maßnahmen auf Regierungsebene zur wirtschaftlichen Entwicklung der grenznahen Regionen auf deutscher und tschechischer Seite
gemeinsame Ausarbeitung lokaler und regionaler Projekte auf dem Gebiet der Ökologie, der Entwicklung des Binnenmarktes, der Zusammenarbeit mittelständischer Unternehmen, der Ansiedlung von Hochtechnologien und der Dienstleistungen und der Landesentwicklung
auf kulturellem Gebiet
Ausbau des Kulturaustausches auf allen Ebenen, besonders im Rahmen der kommunalen Partnerschaften
Intensivierung des deutsch-tschechischen Schüler -, Jugend- und Studentenaustausches
Schaffung von Initiativen Jugendlicher beider Staaten zur Aufarbeitung und Vermittlung des gemeinsamen antifaschistischen Kampfes in beiden Ländern
Durchführung gemeinsamer Sportveranstaltungen nach dem Beispiel der Euroregion Neiße,/ Nysa/ Nisa, sowie von Musik- und Kulturfestivals nach dem Vorbild Sächsisch – Böhmischer Musiktage, von tschechischen Kulturtagen in Deutschland und Tagen der Kultur der Bundesländer in Tschechien
Förderung der Zusammenarbeit von Hochschulen, Theatern, Museen, Bibliotheken und anderer Einrichtungen der Kultur unter Beachtung der sorbischen Sprache und Kultur
Förderung der über Jahrhunderte währenden deutsch- tschechischen kulturellen Wechselseitigkeit durch Forschung und Traditionspflege