Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union ist ein Kompromiss, mit dem demokratische SozialistInnen politisch umgehen sollten
Vor wenigen Tagen billigten die EU-Staats- und Regierungschefs in Biarritz den Entwurf der EU-Grundrechte-Charta. Sie soll beim Gipfel im Dezember in Nizza „feierlich proklamiert“ werden. Ob die Charta Rechtsverbindlichkeit erhält, ist aber noch offen.
Der nun vorliegende Entwurf ist im Unterschied zu seinen Vorläufern wesentlich ausgewogener. Er ist ein Kompromiss zwischen gegensätzlichen Interessenlagen verschiedener politischer Parteien, Kräften und Bewegungen, vielfältigen Wertvorstellungen sowie unterschiedlichen kulturellen und Verfassungstraditionen in 15 EU-Mitgliedstaaten. Beachtet werden musste sowohl britisches common law als auch die Freiheits-, Gleichheits- und Solidaritätsgebote der Französischen Revolution, das in Italiens Verfassung enthaltene Recht auf Arbeit oder das Grundgesetz. Grundlagen der Charta bilden die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, das Gemeinschaftsrecht, die Europäische Sozialcharta und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Der Charta-Entwurf hat Schwächen, aber auch Stärken. Seine Bewertung ist eine Frage der politischen Güterabwägung. Sicherlich konnte kein Ergebnis erwartet werden, das mit dem von der PDS bereits 1995 der Öffentlichkeit vorgelegten Entwurf einer EU-Grundrechte-Charta identisch ist.
Das Lager der Kritiker bzw. Gegner des Charta-Entwurfs reicht vom radikal linken Standort bis erzkonservativ, schließt einige NGO ebenso ein wie Unternehmerverbände, vor allem Skeptiker und Gegner des europäischen Integrationsprozesses aus Großbritannien, Schweden und Dänemark. Besonders hier wird befürchtet, eine Grundrechte-Charta sei Auftakt für die Etablierung eines europäischen Superstaates. Allein ein genauer Blick auf den Text der Charta, insbesondere ihren Geltungsbereich und ihre Zuständigkeiten, zeigt, dass derlei Ängste unbegründet sind. Ausdrücklich ist in Artikel 50 fixiert, dass „diese Charta…für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt und dass sie „weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union (begründet), noch…die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben (ändert)“.
Das Hauptanliegen der Charta wird oft missverstanden: Es geht nicht darum, in nationalen Grundrechtsschutz einzugreifen, sondern darum, die in der EU lebenden BürgerInnen vor Eingriffen von EU-Institutionen in ihre Grundrechte zu schützen. Möglichst umfassend und klar bestimmt werden soll dadurch das Verhältnis der real existierenden EU zu ihren BürgerInnen als Werteordnung, zu der die Union als Normsetzer verpflichtet ist. Die Notwendigkeit einer Grundrechte-Charta entstand dadurch, dass infolge des Integrationsprozesses EU-Ministerratsbeschlüsse oder Entscheidungen der Kommission immer stärker das Alltagsleben der Menschen bestimmen. In den Mitgliedstaaten sind die meisten Gesetze, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, durch europäisches Recht bestimmt. Mit der Charta soll folglich der Misstand beseitigt werden, dass die BürgerInnen gegenüber den Rechtsetzungs- und Exekutivfunktionen der EU, die als Staatenverbund einen neuartigen Träger hoheitlicher Gewalt darstellt, keinen ausreichenden und sichtbaren Grundrechtsschutz haben und wahrnehmen können.
Gewiss enthält der Charta-Entwurf eine Schieflage zwischen politischen und sozialen Grund- und Menschenrechten. Er spiegelt insofern die Tatsache, dass die EU eben ein vom Kapital dominiertes Unternehmen ist. Während in der Präambel als Grundsätze der EU „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ benannt werden, fehlt eine Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit. Zeitweilig erschien es im Konvent so, als ob es völlig unmöglich sein würde, selbst minimale soziale Rechte in die Charta aufzunehmen. Aber unter anderem die in Artikel 16 von den Konservativen durchgesetzte Anerkennung der „unternehmerischen Freiheit“ führte zum massiven Gegensteuern von sozialdemokratischen, sozialistischen und anderen Konventsmitgliedern, von Gewerkschaften und NGO. So gelang es, mit Artikel 28 das Recht auf Kollektivhandlungen unter Einschluss des Streikrechts zu garantieren. Dagegen laufen nun britischer Industrieverband CBI und deutscher BDI Sturm.
Obwohl das Recht auf Arbeit oder ein gerechtes Arbeitsentgelt nicht durchsetzbar waren, ist in der Charta zumindest von einem „Recht zu arbeiten“ und von „Berufsfreiheit“ (Artikel 15) die Rede, womit Berufsverbote ausgeschlossen werden. CSU-Politiker wenden sich dagegen, dass Artikel 34 ein Anspruch auf Leistungen der Sozialsysteme zuerkennt. Sie befürchten teure Beschäftigungsprogramme, die die EU nun auflegen müsse.
In Artikel 1 fand in Anlehnung an unser Grundgesetz die Formulierung Eingang, wonach die Würde des Menschen „unantastbar“ ist. Angesichts der rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Übergriffe ist das nicht zu unterschätzen. Um die Grundrechte der BürgerInnen gegenüber EU-Institutionen auch auf der Basis gemeinsamer Rechtsauffassungen und Werte deutlich zu machen, wurden das Verbot der Todesstrafe, der Folter, der Sklaverei, von Zwangsarbeit und Menschenhandel oder das Gebot der Verhältnismäßigkeit von Strafmaß und Schwere der Straftat aufgenommen. In Artikel 3 werden eugenische Praktiken und das reproduktive Klonen von Menschen verboten. Dass Umweltschutz und Verbraucherschutz nicht im Sinne eines individuellen Rechtsanspruchs formuliert werden, ist sehr unbefriedigend.
Nach harten Auseinandersetzungen wurde im Kapitel Freiheiten das Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung aufgenommen. Schließlich ist damit zu rechnen, dass Armeeangehörige auf Grund von EU-Ratsbeschlüssen zu Militärinterventionen „in und um Europa“ entsandt werden. Bedauerlich ist, dass für Drittstaatsangehörige ein individueller Rechtsanspruch auf Asyl nicht durchsetzbar war. Es blieb bei einer Gewährleistungspflicht nach der Genfer Flüchtlingskonvention und Gemeinschaftsrecht (Artikel 18).
Beispielhaft für modernen individuellen Grundrechtsschutz ist das in Artikel 21 geregelte Diskriminierungsverbot „wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“. Im Kapitel Gleichheit gelang es mir durch einen offiziell eingebrachten Antrag, in Artikel 23 „die Gleichheit von Männern und Frauen…in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen“. Alle weiblichen Konventsmitglieder trugen diesen Antrag unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit mit.
Wie sich die PDS zur Grundrechte-Charta verhalten soll, beschreiben bereits unsere Europa-Wahlprogramme von 1994 und 1999. Wir setzen uns darin für eine öffentliche Verfassungsdiskussion ein, in der die politischen, sozialen oder ökologischen Aufgaben der EU ebenso zu bestimmen sind wie die gemeinsamen Grundwerte seiner Mitglieder, die Rechte seiner BürgerInnen oder eine klare Abgrenzung der Kompetenzen von Union bis hin zu Kommunen.
Die PDS, die eine sozialistische Bürgerrechtspartei sein will, zugleich aber aus der SED-Tradition der Negierung von Freiheitsrechten und Demokratie kommt, ist gut beraten, mit dem Charta-Entwurf politisch sensibel umzugehen und ihn zu unterstützen. Jetzt kann die Verfassungsdiskussion mit den BürgerInnen zu Perspektiven der Integration und zur Grundrechte-Charta geführt werden. Die Charta muss durch ein EU-weites Referendum Aufnahme in die EU-Verträge finden und so Rechtsverbindlichkeit erhalten.
Quelle:
Neues Deutschland, 20. Oktober 2000