Europäische Sozialpolitische Agenda 2000 – 2005

Klaus Dräger

Welcher Weg für eine moderne Sozialpolitik?

Frankreichs Regierung will dem sozialpolitischen Fortschritt in Europa neuen Elan geben. Lionel Jospin und seine Sozialministerin Martine Aubry drängen darauf, die Europäische Sozialpolitische Agenda beim EU-Gipfel in Nizza am 7. und 8. Dezember 2000 auf den Weg zu bringen. Die Europäische Kommission hat Ende Juni unter wohlklingenden Überschriften wie „Vollbeschäftigung, Qualität der Arbeit, qualitative Sozialpolitik und Sozialpartnerschaft“ verschiedene gesetzgeberische Aktivitäten für den Zeitraum 2000 bis 2005 vorgestellt.

Die Kommission fordert eine Koordination der Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten, die in einigen ausgewählten Bereichen gemeinschaftsweit organisiert werden soll. Regierungen, Europäisches Parlament, Gewerkschaften und Unternehmerverbände sollen bei der „Modernisierung des Europäischen Sozialmodells“ zusammenarbeiten. In einigen Bereichen der Agenda setzt die Kommission Ziele, die durchaus eine positive Entwicklung einleiten könnten: Überwindung der Armut, Verhinderung von sozialer Ausgrenzung, eine Antidiskriminierungspolitik zugunsten älterer Menschen, ImmigrantInnen, Behinderter oder von Schwulen und Lesben. Die angekündigten Vorschläge für spezifische Maßnahmen und Aktionsprogramme werden zeigen, wie ernst es der Kommission mit diesen Anliegen wirklich ist.

Ansonsten zielt die „Modernisierung des Sozialschutzes“ allerdings eher in eine neoliberale Richtung. „Arbeits- und Gesundheitsschutzbestimmungen vereinfachen“, „die Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte fördern“, „neue flexible Arbeitsformen unterstützen“, die „langfristige Bezahlbarkeit der Renten im Blick halten“, „freiwillige Mechanismen zur Mediation bei Arbeitskämpfen und industriellen Konflikten anschieben“ – so lautet der Themenkatalog der Kommission. Der Tenor geht eher in die Richtung einer unternehmerfreundlichen Flexibilisierung des Arbeitslebens und der Sozialsysteme. Mit einem europäischen Aktionsplan will die Kommission Entlohnungsmodelle fördern, bei denen ein Teil des Entgelts der ArbeitnehmerInnen in Form von Aktien oder Optionen geleistet wird. Alle „harten Fragen“ – z.B. gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, lebensbegleitendes Lernen und berufliche Weiterbildung usw. – werden an Verhandlungen zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften delegiert. Für das Programm der „sozialpolitischen Agenda“ sollen keine neuen Finanzmittel bereitgestellt, sondern bestehende Förderinstrumente „effektiver genutzt“ werden.

Die französische Arbeits- und Sozialministerin Martine Aubry möchte bei der Agenda andere Akzente setzen. Sie fordert von der Kommission, stärker auf die Rolle des Non-Profit-Sektors und der Sozialwirtschaft einzugehen, die Funktion öffentlicher Dienste im allgemeinen Interesse in der Sozialpolitik stärker herauszustellen, die Vorschläge zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung konkreter zu machen und den Arbeits- und Gesundheitsschutz zu stärken. Organisationen wie das Europäische Netzwerk gegen Armut, die internationale Bewegung ATD „Vierte Welt“ und die gemeinsame Plattform von Europäischem Gewerkschaftsbund und Nichtregierungsorganisationen pochen auf solidarische Alternativen. Sie verlangen mehr Geld für das Programm gegen soziale Ausgrenzung, die Einrichtung einer Beobachtungsstelle für Armut und soziale Ausgrenzung sowie den uneingeschränkten Zugang aller wirtschaftlich Schwachen zu sozialen Grundrechten wie Bildung, Wohnung, Beschäftigung, Kultur,Gesundheit und Kindererziehung. Soziale Rechte sollen in der EU-Charta der Grundrechte verbindlich und einklagbar festgehalten werden. Die Arbeitsmarktpolitik soll auf qualifizierte und sinnvolle Beschäftigungsverhältnisse statt auf niedrig entlohnte Dienstleistungsjobs orientiert werden. Die Programme zur Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung sollen auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene mit den Betroffenen gemeinsam ausgearbeitet und umgesetzt werden. Nur wer arme und sozial ausgegrenzte Menschen beteiligt, könne Projekte entwickeln, die den Bedürfnissen der Zielgruppen entsprechen. Die Netzwerke wollen damit Fehlentwicklungen aus der Praxis vormundschaftlicher, bürokratisierter Sozialbehörden vermeiden.

Ob die französische EU-Präsidentschaft die Kommission und die Regierungen der anderen Mitgliedstaaten von ihren weitergehenden Vorstellungen überzeugen kann, ist unsicher. Zunächst schafft sie sich selbst ein Problem: Ministerin Aubry wird die Regierung im Oktober 2000 verlassen, um ihren Wahlkampf um den Bürgermeisterinnenposten von Lille zu führen. Präsident Jacques Chirac ist ohnehin mehr an den anderen Themen des EU-Gipfels von Nizza wie der Reform der EU-Institutionen und der Sicherheitspolitik interessiert. So werden Gewerkschaften, Sozialinitiativen und europäische Linksparteien durch eigene Aktionen ein politisches Klima schaffen müssen, damit der soziale Fortschritt in Europa nach dem Ministeriumswechsel in Frankreich nicht unter die Räder kommt.