Eigentlich braucht der europäische Rassismus nicht die FPÖ
André Brie in: ‚Neues Deutschland‘ vom 15. September 2000
Selbst Marx‘ schöner Gedanke, die Geschichte wiederhole sich das eine mal als Tragödie, das andere mal als Farce, wird weder der Peinlichkeit noch der Bitterkeit des Vorgangs gerecht. Die „Sanktionen“ von 14 EU-Staaten gegen die österreichische Regierung waren von ihrem sachlichen Gehalt her lächerlich und ärgerlich angesichts ihrer Verlogenheit. Aber sie hätten vielleicht ein durchaus wichtiger symbolischer Akt der längst überfälligen Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus sein können, die in der stärksten (!) österreichischen Regierungspartei FPÖ unbezweifelbar eine Heimat haben. Schnelle Lösungen hätte es ohnehin nicht gegeben. Die politische Polarisierung jedoch, wo es sie – wie in Frankreich – gegeben hat, kann langfristig zur wirksamen gesellschaftlichen Stigmatisierung des Rechtsextremismus beitragen. Aber diese Symbolik wurde vom ersten Tag an nicht nur von einigen der beteiligten Regierungen und vor allem von der EU-Kommission missachtet, sie war nicht gewollt, um dem vielfältigen europäischen Rechtsextremismus endlich aktiv und ursachenorientiert entgegenzutreten.
So erschraken die meisten Regierungen auch sofort vor der eigenen Courage und beschäftigten sich weniger damit, die FPÖ zu isolieren als damit, mit möglichst geringem Gesichtsverlust die eigenen Beschlüsse vergessen machen zu können. Drei sicherlich ehrenwerte Männer wurden zu „europäischen Weisen“ ernannt, was wohl jeden Zweifel am Ergebnis ihrer Prüfung verbieten und den Regierungen die Entscheidung durch eine „höhere“ Institution abnehmen sollte. Das Resultat stand von vornherein fest. Die nun erfolgte Beendigung der in dieser Form auch kontraproduktiven „Sanktionen“ wird von der europäischen und österreichischen Rechten, der triumphierende Haider voran, als Erfolg gefeiert und von den beteiligten 14 Regierungen, Joseph Fischer voran, als Misserfolg geleugnet.
In den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union gibt es bedrohliche neofaschistische und andere rechtsextreme Entwicklungen. Gemeinsame Ursachen ergänzen sich mit länderspezifischen, und auch die Erscheinungsformen sind unterschiedlich. Österreich kann sich sogar zugute halten, dass die dort zu beobachtende Ausländerfeindlichkeit nicht die Gewalttätigkeit der deutschen aufweist. In Belgien, aber auch in einigen anderen Staaten geht ein nationalistischer Rechtsextremismus mit separatistischen Bestrebungen einher. In Schweden gibt es gezielte politische Morde an Antifaschisten, aber kaum rechte Organisationen…
In allen Fällen können die extremen Rechten in Europa an der berechtigten Empörung und dem Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit anknüpfen, die sehr viele Menschen angesichts eines sozial und kulturell zerstörerischen Globalisierungswettlaufs, der Selbstentmachtung von Politik und Demokratie gegenüber Wirtschafts- und Gewinninteressen sowie der sozial kalten und bürokratischen Politik der EU hegen. Und hier liegt das eigentlich entscheidende Problem: Die EU und die nationalen Regierungen tragen unter dem Druck der großen europäischen Konzerne und Banken sowie der Unternehmerverbände mit ihrer Politik der massiven Privatisierung und Deregulierung nicht nur dazu bei, den Nährboden des Rassismus zu bereiten, sondern sind selbst Ausgangspunkt einer Politik, die nicht wenige rassistische und andere reaktionäre Züge trägt.
Das eben macht die Unglaubwürdigkeit dieser Politik aus. Man muss gar nicht davon reden, dass die rechtspopulistische Regierung Berlusconis, die die italienischen Neofaschisten einschloss und möglicherweise demnächst wieder einschließen wird, ohne jede Reaktion der EU-Partner geblieben war. Mit dem Schengener Abkommen und seinen folgenden Durchführungsbestimmungen schottet sich die EU auf eine wahrlich rassistische Weise gegen die maßgeblich von Westeuropa mitverursachte Not des Südens dieser Erde, gegen Asylbewerberinnen und Asylbewerber und andere Flüchtlinge ab. „Verdachtsunabhängige“ Personenkontrollen 50 Kilometer von den Grenzen entfernt können nur bedeuten, dass unter den unverdächtigen Menschen Äußerlichkeiten verdächtig machen: dunkle Haut, „fremdes“ Aussehen. Wer nicht „deutsch“ oder z.B. „österreichisch“ daher kommt, ist in Schengenland verdachtsunabhängig kriminell verdächtig. Menschenrechtsverletzungen in Jugoslawien empören die EU zu Recht, zu jenen in der Türkei schweigt sie faktisch. Kurdinnen und Kurden sind offensichtlich der edlen europäischen Menschenrechte nicht würdig. Die brandenburgische CDU-Abgeordnete Glase schlug in ihrem Bericht gegen die Schwarzarbeit in den EU-Staaten vor, alle Arbeitnehmer mit einer „elektronisch lesbaren Chipkarte“ europaweit zu kontrollieren. Wie könnte die extreme Rechte diesen menschenverachtenden Populismus überbieten?!
Nach Aufhebung der „Sanktionen“ bleibt in der EU nicht nur viel, sondern praktisch alles zu tun übrig.
Quelle:
‚Neues Deutschland‘ vom 15. September 2000