Wir in Europa – Zur EU-Politik der PDS

Andreas Wehr

Referat von Andreas Wehr auf dem Landesparteitag der PDS Sachsen am 25. November 2000

Europa kann man bekanntlich von ganz verschiedenen Seiten aus betrachten. So sehen manche in der europäischen Einigung bereits den Ansatz für die Herausbildung eines Gegengewichts zu den USA und damit eines Konkurrenten auf der Ebene der Supermächte. Andere betonen hingegen die ordnende und damit auch stabilisierende Rolle die die ursprünglich auf Westeuropa beschränkte Integration nun mehr und mehr auch für die Entwicklung in Osteuropa spielt. Vor allem aber wird die Herausbildung eines einigen Europas als Garant für die künftige friedliche Entwicklung unseres Kontinents gesehen. Die Entwicklung der Union wird demnach als Prozess des Lernens aus der eigenen Geschichte gedeutet, die im letzten Jahrhundert gezeichnet war von imperialistischer Konkurrenz und mörderischen Kriegen der Nationalstaaten, inbesondere Deutschlands. Ein Verhängnis, das Brecht einmal mit dem Bild beschrieb: „Wenn nicht mehr die Fahrräder über die Grenze rollen können, rollen bald die Panzer darüber hinweg.“ Natürlich war und ist Europa auch das, Ergebnis eines täglichen Ringens um einen Ausgleich der unterschiedlichen, ja nicht selten gegensätzlichen kapitalistischen Interessen. Als Sozialisten und damit als Internationalisten sollten wir das immer im Auge behalten und uns damit des historischen Fortschritts bewußt bleiben, der damit so mühsam errungen wurde.

Aber dies ist schon lange nicht mehr die ganze Wahrheit, wenn wir über die heutige Rolle der Europäischen Union sprechen. Die Union hat sich in den über 40 Jahren ihres Bestehens mehrfach gewandelt, und sie ist natürlich auch nicht unberührt geblieben von dem Aufstieg und der Durchsetzung der neoliberalen Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik in den Jahren nach 1980 in ihren Mitgliedsländern. Als sozialistische Partei, deren Mitglieder ihr Denken von der Ökonomie her entwickeln, sollten uns aber diese Prozesse besonders interessieren.

So ist die heutige Europäische Union geprägt von den Bestimmungen der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987, der eigentlichen Geburtsurkunde des Binnenmarktes, dem Vertrag von Maastricht von 1992 mit seinen Bestimmungen über eine Wirtschafts- und Währungsunion und schließlich von dem Vertrag von Amsterdam, in dem vor allem die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Justiz- und Innenpolitik festgeschrieben wurde.

Wenn wir uns mit der Europäischen Union beschäftigen, so heißt das, daß wir uns nicht bei der Beschwörung von Mythen oder Wunschvorstellungen aufhalten dürfen, sondern daß wir uns für die Resultate der tagtäglichen Politik interessieren müssen.

Wir haben dabei davon auszugehen, daß die gegenwärtig sich vollziehende europäische Einigung die spezifische europäische Form der Globalisierung ist.
Hier stellt sich natürlich gleich die Frage: Was ist Globalisierung? Ich will hier keine weitere Begriffsdiskussion darüber eröffnen, sondern lediglich auf die Definition der OECD verweisen, der Organisation, die immerhin den wichtigsten Zusammenschluß der größten kapitalistischen Industrieländer darstellt, einer Organisation zudem, die mit Sicherheit nicht im Verdacht steht, antikapitalistische Theorien bzw. Ideologien zu befördern. Dort heißt es: Globalisierung ist die „die jetzt erreichte Stufe und die heutige Form der internationalen Produktion…, in der ein zunehmender Teil der Wertschöpfung und die Vermögen weltweit durch ein System eng verflochtener privater Netzwerke produziert und verteilt wird. Große multinationale Unternehmen, die innerhalb konzentrierter Angebotsstrukturen operieren und die Vorteile finanzieller Globalisierung voll ausschöpfen können, stehen im Zentrum dieses Prozesses“. Die treibenden Kräfte sind demnach – und das immerhin nach der Definition der OECD – die großen transnationalen bzw. multinationalen Konzerne.

Um welche ökonomischen Einheiten geht es dabei? Nach Angaben des Weltinvestitionsberichts der UNCTAD gibt es weltweit z.Z. etwa 53.000 transnationale Konzerne mit 450.000 ausländischen Niederlassungen. Das von ihnen gehaltene Gesamtvermögen beläuft sich auf die astronomische Summe von insgesamt 13 Billionen US-Dollar. Ihre Zentralen befinden sich fast ausschließlich in den höher entwickelten Industrieländern. So liegen die Hauptsitze der 100 größten Konzerne zu 99% in den OECD-Ländern, insbesondere in den USA, Japan, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Die transnationalen Konzerne wickeln ein Drittel des Welthandels jeweils konzernintern und ein weiteres Drittel untereinander ab. Der Anteil des im Ausland erwirtschafteten Umsatzes übersteigt oft weit den des Inlandes. Der Elektrokonzern Siemens, dessen Auslandsumsatzanteil 1970 bei 41 und 1980 schon bei 54 Prozent lag, steigerte etwa bis zum Geschäftsjahr 1996/97 sein Auslandsgeschäft mit 70,6 Mrd. DM auf 66 Prozent, der Chemiekonzern Bayer in fast dem gleichen Zeitraum von 65 über 73 auf 80 Prozent. Dieser Internationalisierung entsprechend, ist man in einigen Vorstandsetagen deutscher Konzerne bereits dazu übergegangen, Englisch zur verbindlichen Sprache in den Zentralen zu erklären.

In einem engen Zusammenhang mit der stetig wachsenden Rolle dieser Unternehmen steht auch der Zuwachs an privaten Direktinvestionen in der Welt. Zwischen 1980 und 1997 haben sich diese Investionen im Wert versiebenfacht. Sie stiegen damit doppelt so stark wie der Welthandel mit Waren und Dienstleistungen. Wohin gehen nun diese Direktinvestitionen? Am Bestand deutscher Direktinvestionen im Ausland von insgesamt 375,8 Mrd. DM hatten die Staaten der Europäischen Union einen Anteil von 55,3, die anderen Industrieländer von 31,1 Prozent, darunter die USA 21,5 und Japan 2,0 Prozent. Auf die sogenannten Reformländer – China und die Länder Osteuropas – entfielen 1995 lediglich 3,3 Prozent der privaten Direktinvestitionen. Diese Zahlen können durchaus auf die anderen wichtigen Industrieländer übertragen werden. Der überaus größte Anteil des Waren- und Kaptaltransfers spielt sich daher zwischen den drei Zentren der Weltwirtschaft ab: Zwischen Nordamerika, der EU und Ostasien – diese Regionen bilden die sogenannte Triade.

Wie setzt sich nun diese ökonomische Macht in politische Interessen und in einen ganze Gesellschaften beherrschenden Einfluß um? In erster Linie natürlich und damit in ganz traditioneller Weise über die Vormachtstellung des jeweiligen Nationalstaats, in dem der transnationale Konzern seine jeweilige Heimatbasis hat. Dies gilt vor allem für das weltweite Agieren der USA, deren internationale Politik immer die jeweiligen eigenen Monopolinteressen reflektiert und berücksichtigt. Das gilt aber auch für solche Länder wie Japan, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, die massiv ihre staatlichen Machtmittel zur Förderung der in ihnen beheimateten transnationalen Konzerne einsetzen.

Doch im Unterschied zu früheren Epochen des Kapitalismus, etwa zu den Zeiten des Hochimperialismus, führt diese Konkurrenz der Nationalstaaten bei der Vertretung und Durchsetzung der Interessen „ihrer“ Konzerne, jedenfalls gegenwärtig, nicht zu gefährlichen Spannungen und kriegerischen Zuspitzungen, dies ist zumindest eine – nicht zu unterschätzende – zivilisatorische Errungenschaft in Folge der sich vertiefenden internationalen Arbeitsteilung. Die Interessen der Nationalstaaten gehen vielmehr ein in die Politik verschiedener internationaler Organisationen, die eine immer bedeutendere Rolle bei der Durchsetzung der Interessen der transnationalen Konzerne spielen. Zu nennen sind hier solche Organisationen wie die Welthandelsorganisation (WTO), der Internationale Weltwährungsfonds (IWF), die Weltbank oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit der entwickelten Länder (OECD). In all diesen Organisationen verfügen selbstredend die großen Industriestaaten mittels Stimmengewicht und durch ihren Finanzierungsanteil über den beherrschenden Einfluß.

Der Prozeß der Globalisierung vollzieht sich aber nicht alleine nur mit Hilfe des Agierens weltweit tätiger Organisationen, er bringt daneben auch regionale Zusammenschlüsse hervor, in denen die Internationalisierung jeweils noch schneller als in den übrigen Weltregionen voranschreitet, in deren Handeln sich aber auch unterschiedliche Mentalitäten und Traditionen der regionalen Räume widerspiegeln. Eine der größten, aber auch in sich losesten Zusammenschlüsse stellt die APEC-Gemeinschaft der am Pazifik gelegenen Staaten Amerikas und Asiens dar. In Südostasien existiert seit Jahrzehnten die ASEAN (die Südostasiatische Wirtschaftsgemeinschaft). Kanada, die USA und Mexiko schufen die NAFTA (Nordamerikanische Freihandelszone). Sie soll möglicherweise auf weitere lateinamerikanische Staaten (etwa Argentinien) ausgedehnt werden. Überlegt wird aber auch, die lateinamerikanischen Staaten mit Hilfe des FTAA (Freihandelszone für die beiden Amerikas) fester an die Wirtschaft der USA anzubinden. Schließlich gibt es die Europäische Union, die allerdings – im Gegensatz zu den genannten anderen regionalen Zusammenschlüssen – bereits über gewisse Regelungskompetenzen verfügt, die über die reinen Wirtschaftsbeziehungen hinausgehen, etwa im Umweltschutz und in der Gewährleistung eines weitgehend freien Personenverkehrs unter ihren Mitgliedsländern. Auch gibt es in ihr ernst zu nehmende Ansätze für eine demokratische Kontrolle und Gestaltung dieser multinationalen Politik, etwa in Gestalt des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs.

So wie sich die Globalisierung in den verschiedenen Weltregionen in unterschiedlichen Organisationsformen entwickelt und ausprägt, so stehen auch unterschiedliche Zielsetzungen im Mittelpunkt der Interessen. Absicht der von den USA beherrschten NAFTA bzw. FTAA ist es etwa, die verbliebenen Reste der nationalen geschützten Märkte Lateinamerikas im Interesse der amerikanischen transnationalen Konzerne zu öffnen und zu beherrschen. Der traditionell starke öffentliche Sektor in den Volkswirtschaften dieser Länder soll eingeschränkt und weitgehend aufgelöst werden. In Ost- und Südostasien hingegen wurden unter Ausnutzung der Asienkrise und unter Führung des IWF die Bankensysteme der jeweiligen Ländern ausgehebelt, deren wichtigste Bestimmung bis dahin die Absicherung endogener Entwicklungswege war. So geschah es erfolgreich in Korea, Thailand und Indonesien, lediglich Malaysia leistet einen gewissen hinhaltenden Widerstand.

Was ist nun das gegenwärtige Ziel der transnationalen Konzerne im europäischen Raum? Im politischen Zentrum steht ohne Zweifel der Angriff auf die von den europäischen Gewerkschaften angestrebte Egalisierung und Kollektivierung von Lohnverhältnissen, samt ihrer politischen Flankierungen im und durch den Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Die Vermittlung von Kapital-Arbeits-Beziehungen werden aufgebrochen, sozialrechtliche Konzeptionen des Arbeitsverhältnisses zugunsten privatrechtlicher Konzeptionen verdrängt. Letztlich wird so ein Erosionsprozeß jener Bedingungen festgezurrt, unter denen die ökonomisch Herrschenden zu klassenübergreifenden, gesamtgesellschaftlichen Kompromissen gezwungen werden konnten. In Frage gestellt und attackiert wird damit ein regionales kapitalistisches Entwicklungsmodell, daß sich – gelegentlich auch als „Rheinischer Kapitalismus“ bezeichnet – in Westeuropa ab Beginn der fünfziger Jahre, vor allem unter den Bedingungen günstiger konjunktureller Entwicklungen aber auch im Schatten der Systemkonkurrenz, als Alternative zu amerikanischen aber auch japanischen Verhältnissen entwickeln konnte.

Gegenwärtig wird dieses Modell von verschiedenen Seiten angegriffen: Die betrieblichen Strukturen sollen „lean“, d.h. mager gestaltet werden mit einer, nach japanischem Vorbild gestalteteten, auf patriachalen Strukturen beruhenden Ein- und Unterordnung des Lohnabhängigen in den Betrieb mit dem Ziel, eine möglichst große Identifikation des Einzelnen mit dem Schicksal des Unternehmens zu erzielen.

Auf der politisch vermittelten Ebene, bei der Rentenpolitik und in den Sicherungssystemen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit, sollen die in vielen westeuropäischen Staaten bestehenden kollektiven Sicherungssysteme zugunsten privater Vorsorge zurückgedrängt werden, ganz so wie es in den USA Tradition ist. Wir erleben diese Systemveränderung anhand der Pläne von Arbeitsminister Riester zur Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung gegenwärtig hautnah in einem zentralen Bereich der sozialen Sicherung. Doch es wird nicht nur die strukturelle Senkung der Kosten der Arbeitskraft mit dem Verweis auf andere, für das Kapital günstigere Standorte, vorangetrieben. Auch in der Steuerpolitik – und hier vor allem bei der Besteuerung der Unternehmen – wird beständig auf noch „günstigere“ Standorte verwiesen, denen man sich anzupassen habe. Desweiteren werden hohe gesellschaftliche Vorleistungen – etwa in der Infrastruktur, im Bildungsbereich, bei der Forschungsförderung oder bei der Geldwertstabilität – als Voraussetzungen dafür verlangt, daß ein transnationaler Konzern seine Bereitschaft zeigt, überhaupt in einem bestimmten Land bzw. in einer bestimmten Region zu investieren bzw. dort auch nur zu verbleiben. So verwandelt sich vor unserer aller Augen der von den Kräften der Arbeit erkämpfte Wohlfahrtsstaat Schritt für Schritt in einen Standortnationalismus. Dieser Prozeß scheint sich gegenwärtig wie eine unaufhaltsame Naturgewalt Bahn zu brechen. Traditionelle politische Differenzen werden angesichts dieser scheinbar unhinterfragbaren Logik eingeebnet bzw. reduzieren sich allein auf die Frage, wie weitreichend und wie schnell man sich diesen Erfordernissen zu unterwerfen hat. Die „neuen Sozialdemokraten“ scheinen hier der CDU und der FDP gegenwärtig den Rang ablaufen zu wollen, von den Bündnisgrünen ganz zu Schweigen.

Nun gut, so werden viele sagen, was hindert uns daran, die im nationalen Maßstab abhanden kommenden Regelungs- und Steuerungsmechanismen des Staates auf einer höheren Ebene – etwa der der Europäischen Union – neu zu etablieren? Und in der Tat, in den Programmen der Gewerkschaften und der europäischen Linksparteien finden sich nunmehr schon seit Jahren die Forderungen nach beschäftigungs- und sozialpolitischen Rahmensetzungen auf europäischer Ebene. Und auch unsere Partei stellte in ihrem Europawahlprogramm von 1999 die Forderung nach einer Beschäftigungs- und Sozialunion in den Mittelpunkt: „Wir streben nach Vollbeschäftigung und wollen die Bewahrung und Weiterentwicklung sozialer Sicherungssysteme in Europa. Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion muß durch eine Sozial-, Beschäftigungs- und Umweltunion sowie eine Harmonisierung von Steuern und Abgaben ergänzt und korrigiert werden“, heißt es darin.

Doch die postulierten politischen Notwendigkeiten sind das eine, die Realitäten das andere. Wir können unsere Augen nicht davor verschließen, daß die europäische Linke bei der Durchsetzung ihrer Forderungen, etwa nach einer Beschäftigungs- und Sozialunion, in den letzten zehn Jahren kaum einen Schritt vorangekommen ist. Natürlich gab es einige Fortschritte: So hatte die britische Regierung unter Blair nach ihrem Amtsantritt endlich die Sozialcharta unterzeichnet und damit eine längst fällige Entwicklung nachvollzogen. Von großer Bedeutung für die Regelung der Arbeitsbeziehungen auf europäischer Ebene ist auch die 1994 nach einem jahrzehntelangen Ringen verabschiedete Richtlinie über Europäische Betriebsräte. Auch in den Entwurf der Grundrechtecharta sind soziale Rechte mit eingegangen. Doch diese Fortschritte können nicht verdecken, daß der Prozeß der Deregulierung und Auflösung sozialer Standards in den Ländern der Europäischen Union gerade mit Hilfe der Gremien der EU in all diesen Jahren in großen Schritten vorangekommen ist.

Eine erste wichtige Weichenstellung stellte das Mitte der 80er Jahre gestartete und inzwischen weitgehend umgesetzte Projekt eines liberalisierten und deregulierten Binnenmarktes für Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital dar, dessen Grundsätze 1987 in der Einheitlichen Europäischen Akte verankert wurden. Mit dem 1992 in Maastricht auf dem Weg gebrachte Projekt einer Wirtschafts- und Währungsunion wurde dieser Kurs beschleunigt und zugleich vertieft. In dem 1997 beschlossenen, die Wirtschafts- und Währungsunion begleitenden sogenannten Stabilitätspakt werden die Länder der Eurozone einer rigiden Haushaltskontrolle unterworfen, die eine auf Krisen flexibel reagierende Haushaltspolitik von vornherein unmöglich macht.

Inzwischen gibt es kaum einen gesellschaftlichen Bereich mehr, in dem die Europäische Kommission nicht die entschiedendste und vorwärtstreibendste Kraft darstellt, wenn es um die Liberalisierung von Märkten, den Abbau von staatlichen Beihilfen, von regionalen Schutzbestimmungen und die Beschneidung staatlicher Aufgaben der sogenannten Daseinsfürsorge geht. Ganz gleich, ob es sich um die Öffnung der nationalen Strommärkte handelt, es um die Rückforderung von Investitionsbeihilfen in strukturschwachen Regionen geht, ob verlangt wird, daß sich der öffentliche Personennahverkehr der europäischen Konkurrenz aussetzt, ob Ausschreibungen der öffentlichen Hand – auch die der Kommunen – zukünftig europaweit zu erfolgen haben oder es um die Eliminierung des Systems der kommunalen Sparkassen geht, all überall stößt man an vorderster Front auf das Agieren der europäischen Institutionen, auf Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Kommission, kurz gesagt: überall stößt man auf „Brüssel“ als Synonym für eine anonym, unberechenbar und undurchsichtig arbeitende Maschinerie, die unbarmherzig den Wettbewerb zwischen Ländern, Regionen, Kommunen, Unternehmen und den einzelnen Menschen vorantreibt und für eine immer tiefere ökonomische Durchdringung der Gesellschaften sorgt.

Doch was ist dieses ominöse „Brüssel“? Tatsächlich ist es doch so, daß die europäischen Institutionen nicht wirklich eigenständig agieren. Die Richtlinien und Verordnungen der Kommission entstehen nicht aus dem Blauen. Sie werden am Ende vielmehr vom Europäischen Rat beschlossen, einem Gremium, in dem die Minister der Mitgliedsländer regelmäßig zusammenkommen und entweder einstimmig oder mit Mehrheit die Richtung der Politik bestimmen. Auch werden die einzelnen Kommissare bekannntlich von den Mitgliedsländern benannt und die Europaparlamentarier werden in den einzelnen EU-Ländern gewählt. Schließlich entscheiden die Regierungen der Mitgliedsländer auch über die wesentlichen Haushaltsfragen. Deshalb und insofern spiegeln sich in der europäischen Politik am Ende doch nur die politischen Kräfteverhältnisse der Mitgliedsländer, und hier vor allem die Interessen der größten und einflußreichsten Nationalstaaten. Und da die europäische Sozialdemokratie gegenwärtig die mit Abstand stärkste Kraft in den Ländern der EU ist, trägt sie selbstverständlich auch die Hauptverantwortung für diese durch und durch neoliberale Ausrichtung der europäischen Politik.

Trotz dieser letztendlich weiterhin gegebenen Abhängigkeit der europäischen Politik von den nationalen Politiken, sozusagen in „letzter Instanz“, besitzt Europa einen eigenen Raum, in dem politische Entscheidungen vorbereitet, durchgesetzt und ideologisch abgesichert werden. Wo liegen nun die spezifischen Unterschiede zwischen dieser Politikform und den uns vertrauten Mechanismen der Nationalstaaten? Weshalb fällt uns der Kampf auf der europäischen Ebene so schwer?

Ich will darauf in drei Thesen Antwort geben:

Europa als imaginärer idelogischer Ort gilt als Hort zivilgesellschaftlichen Ausgleichs und der Vernunft, da hier völkischer Dünkel und nationaler Eigennutz, der in Europa in der Vergangenheit so viel Unglück und Leid gebracht hat, gebrochen werden. Die aus der Geschichte berechtigte Kritik am Nationalismus und Nationalstaat findet hier ihren politischen Fluchtpunkt. Und in der Tat trägt alleine der gegenwärtig sich vollziehende Prozeß des Beitritts der mittelost- und osteuropäischen Länder zur EU dazu bei, daß dort ethnische Konflikte nicht gewalttätig zur Austragung kommen und zumindest gewisse rechtsstaatliche und demokratische Mindestnormen eingehalten werden müssen. Die Friedfertigkeit dieses Europas hat allerdings durch seine Verwicklung in den NATO-Krieg gegen Jugoslawien bereits erheblichen Schaden genommen. Durch die beschlossene Aufstellung einer europäischen Interventionsarmee wird weiterer Schaden hinzukommen, denn damit erscheint bereits die Gefahr einer auch militärisch agierenden Supermacht Europa am Horizont. Und doch ist auch unter den Kritikern der bestehenden Verhältnisse immer noch der Eindruck vorherrschend, mit Europa entwickele sich eine politische Einheit scheinbar unberührt von der dem Kapitalismus innewohnenden aggressiven und ausbeuterischen Eigenschaften, gerichtet sowohl nach innen wie nach außen.
Europa ist ein Ort der Unverbindlichkeit, denn Entscheidungen auf europäischer Ebene funktionieren selten nach den uns aus dem nationalen politischen Rahmen bekannten Schema von Regierung und Opposition, von sozialen Akteuren, die ihre Interessen im politischen Raum durchsetzen wollen, orientiert an Rechts und Links und strukturiert durch Klassen. Neben und überlagernd zu den politischen Richtungsentscheidungen treten nationale Interessen einzelner Staaten oder von Gruppen von Staaten (etwa der Mittelmeeranrainer, der skandinavischen Länder oder der kleineren Staaten an sich). So bleibt oft im Dunkeln, wer wie mit wem welche Entscheidungen etwa im Mehrheitsverfahren innerhalb des Europäischen Rates durchgesetzt hat. Der Europäische Rat tagt im übrigen unter Ausschluß jeglicher Öffentlichkeit. Da er legislative Funktionen wahrnimmt, muß er sich den Vergleich mit China, Nordkorea und Kuba gefallen lassen, dies sind nämlich die einzigen Länder auf der Erde, die eine geheime Gesetzgebung kennen.
Hinzu tritt, daß die Verschlingung der jeweiligen Zuständigkeiten zwischen dem Europäischen Rat, der Kommission und dem Parlament nicht minder unübersichtlich ist als etwa im föderalen System der Bundesrepublik. Doch hier sind die Landesregierungen noch entsprechend ihrer politischen Färbung voneinander unterscheidbar und ihre Ausrichtungen verortbar. Auf europäischer Ebene gilt dies so nicht. Die regierende Labour-Party in Großbritannien ist kaum vergleichbar etwa mit den französischen oder portugisischen Sozialisten. Ähnliches gilt für die Liberalen und für die Konservativen aber auch für die 14 Parteien in unserer „Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke“, die etwa über den Sinn einer fortschreitenden europäischen Integration untereinander zutiefst uneinig sind. So können wir denn auch nicht von wirklichen Fraktionen im Europäischen Parlament reden, wie wir sie etwa aus dem Bundestag oder aus den Landesparlamenten kennen. Ein strikt an den politischen Lagern orientiertes Abstimmungsverhalten dieser Gruppen ist eher die Ausnahme, nicht selten spielen unterschiedliche nationale Interessen mit hinein.

Die europäische Politik agiert ohne eine wirkliche politische Zivilgesellschaft, in der die zu treffenden Entscheidungen vorbereitet, diskutiert und überprüft werden können. Es existiert weder eine einheitliche und verbindliche Verhandlungssprache, die allgemein verstanden wird, noch gibt es kulturelle und politische Einrichtungen, die einen solchen demokratischen Austausch ermöglichen könnten. So gibt es weder echte europäische Parteien oder Gewerkschaften noch wirkungsvolle Medien wie Zeitungen, Rundfunk oder Fernsehen, die nicht an einen nationalen Standort gebunden wären. Aus dieser Situation folgt, daß es auch keine gesamteuropäischen politischen Debatten gibt, die die verschiedenen Öffentlichkeiten von Portugal bis Finnland und von Schweden bis Griechenland tatsächlich bewegen, und die den politischen Entscheidungsprozeß beeinflussen könnten. Eine Debatte, wie etwa die gegenwärtige über die Rentenreform in Deutschland ist deshalb auf europäischer Ebene schlicht nicht organisierbar.
Doch die Lohnabhängigen sind auf das Funktionieren solcher demokratischen Institutionen existenziell angewiesen. Sie benötigen einen öffentlichen Raum, um ihre Interessen durch eine gegenseitige Verständigung über ihre Ziele überhaupt erst einmal artikulieren zu können. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß sie überhaupt die Chance erhalten, eine wirkungsvolle Gegenmacht aufbauen zu können, um schließlich ihre Interessen am Ende wenigstens zum Teil durchsetzen zu können. Daher führt die Schwäche bzw. das gänzliche Fehlen einer solchen Öffentlichkeit auf europäischer Ebene zu dem Ergebnis, daß gerade die Lohnabhängigen strukturell benachteiligt sind. Gut organisierte, die Öffentlichkeit scheuende Lobbygruppen, etwa die der transnationalen Konzerne, profitieren hingegen von diesem Fehlen demokratischer Institutionen. Sie benötigen sie nicht. Ihnen reichen die informellen Kanäle zu den Politikern und in die Bürokratie.

Für die große Mehrheit der Bevölkerung sind die auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen kaum vorhersehbar, nur in einem geringen Maße beeinflußbar und schon gar nicht revidierbar. Sie sind daher für sie nur hinnehmbar. Da aufgrund des Fehlens einer europäischen Öffentlichkeit oft im Nebel bleibt, wer welche Verantwortung für welche Entscheidung trägt, erscheint Opposition dagegen als weitgehend sinnlos oder gleicht dem Kampf gegen Windmühlenflügel. Aus diesem Grund eignen sich die auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen auch so ausgezeichnet zur Durchsetzung unpopulärer, da die politischen und sozialen Rechte der großen Mehrheit der Bevölkerung verletzender Entscheidungen. So gab und gibt es in den letzten Jahren in den Mitgliedsstaaten kaum eine grundlegende neoliberale Maßnahme, die nicht im Gewand Europas daher kam. Der dagegen sich erhebende Widerstand bleibt aber regelmäßig zersplittert, da auf einzelne Nationalstaaten beschränkt und kommt in der Regel auch zu spät, da die in den europäischen Institutionen getroffenen Entscheidungen in der Regel nicht mehr rückholbar sind.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, daß immer mehr Menschen Unbehagen gegenüber einem politischen Prozeß empfinden, den sie immer weniger durchschauen und den sie tatsächlich nur in einem sehr geringeren Maße beeinflussen können, der aber gleichfalls immer tiefer und umfassender in ihre Lebensumstände unmittelbar eingreift, sie immer mehr zu Objekten einer an einem anonymen Ort beschlossenen Politik degradiert. Deutliche Zeichen dieser Stimmungslage gibt es allen Mitgliedsländern der Union. So ist aus vielen Meinungsumfragen bekannt, daß die Einführung der einheitlichen europäischen Währung – des Euro – in nahezu keinem Land bei Volksbefragungen, hätten sie denn stattgefunden, eine Unterstützung gefunden hätte. Das eindeutige Votum in Dänemark, gibt daher durchaus die allgemeine Stimmunglage wider. Auch die jetzt angestrebte Osterweiterung würde wohl in kaum einem Land eine Mehrheit finden. Wie groß die Angst im politischen Establishment vor dem Ausgang einer solchen Befragung ist, zeigte ja die Unruhe und Bestürzung, die sofort entstand als das für die Erweiterung zuständige Mitglied der Europäischen Kommission, Günter Verheugen, die Möglichkeit eines solchen Plebiszits auch nur in Erwägung zog.

Ein Zeichen der schweren Legitimationskrise war auch die äußerst geringe Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament am 13. Juni 1999. Den Parteien – uns eingeschlossen – gelang es nicht, den Bürgerinnen und Bürgern ausreichend deutlich zu machen, daß es sich lohne, an diesem Tag zum Wahllokal zu gehen. In unserem Europawahlprogramm haben wir diese Situation beschrieben: „Nach wie vor krankt die Europäische Union an ungenügender demokratischer Legitimation. (…) Die Folge sind Skepsis, Mißtrauen und Distanz gegenüber der Europäischen Union und dem europäischen Integrationsprozeß. In den meisten Mitgliedsländern schwindet das Interesse der Menschen an der gemeinsamen Lösung der vor allen Mitgliedsländern stehenden Herausforderungen.“

Ausdruck der Legitimationskrise ist aber auch die anwachsende europakritische Haltung von politischen Kräften sowohl auf der Linken als auch der Rechten. In Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Schweden, Österreich oder Dänemark bestimmte sie bereits die Wahlen zum Europäischen Parlament. In Großbritannien errangen die traditionell eine weitere Integration ablehnenden Konservativen eine deutliche Mehrheit über die 1997 noch so erfolgreiche Labour Party. Neben ihr brachte sogar die offen europafeindliche UK-Party einige Kandidaten durch. In Frankreich spaltete sich die Rechte über die Europafrage. Das gegen eine weitere Integration eingestellte Parteienbündnis wurde dabei stärker als die sogenannten europafreundlichen Parteien. In Dänemark und Schweden profitierten hingegen die mit uns zusammenarbeitenden Linksparteien – die Sozialistische Volkspartei Dänemarks und die schwedische Linkspartei – von der wachsenden Kritik an der europäischen Entwicklung. Beide Parteien gehören in unserer Konföderalen Fraktion der Vereinten Linken zu den europakritischsten Gruppen. Und ich darf daran erinnern, daß das bei dieser Europawahl errungene, bisher beste bundespolitische Ergebnis der PDS durchaus in einem gewissen Zusammenhang mit unserer kritischen Haltung gegenüber dem Euro zu sehen ist.

Wie sollen wir uns nun in diesem schwierigen Gelände bewegen, wie sollen wir unseren weiteren Weg bestimmen? Meine Antwort darauf ist folgende, und sie besteht aus drei Elementen:

Die sich vor unseren Augen vollziehende Globalisierung, d.h. vor allem das weltweite Agieren der transnationalen Konzerne, bringt auch transnational vernetzte Produktionsbeziehungen hervor, die nur unter in Kauf nahme erheblicher Rückschritte in der Produktivkraftentwicklung wieder korrigierbar wären. Schon heute können Raumschiffe, Flugzeuge, Autos und viele andere Produkte nur noch dann konkurrenzfähig produziert werden, wenn für diese Produkte nicht alleine nur die internationalen Absatzmärkte nahezu unbeschränkt zur Verfügung stehen, sondern auch die dafür benötigten Entwicklungs- und Produktionsstätten weltweit organisiert sind. Jährlich nimmt die Anzahl jener Erzeugnisse zu, für die diese Bedingungen zutreffen. Die gewaltige Fusionswelle unter transnationalen Konzernen, die wir gegenwärtig erleben, ist ja nur Ausdruck dafür, daß die von Marx beschriebenen Gesetze der Zentralisation und Konzentration des Kapitals weiterhin gelten, d.h. daß der wachsende Anteil des konstanten Kapitals die Notwendigkeit immer größerer Unternehmenseinheiten bedingt. Bereits in der Geburtsurkunde des modernen Sozialismus, im Manifest der kommunistischen Partei, wird diese Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise nahezu prophetenhaft beschrieben. Und in den Politisch-Ökonomischen Manuskripten wird als Abschluß der kapitalistischen Entwicklung „endlich der Weltmarkt“ benannt. Als sozialistische Partei dürften uns daher diese, sich vor unseren Augen abspielenden Prozesse, kaum überraschen. Es gilt aber auch, daß wir hinter die stofflichen Ergebnisse dieser Globalisierung nicht zurückgehen können, wollen wir nicht zu neuen Maschinenstürmern werden.
Wir befinden uns daher heute in einer Situation, die der der Arbeiterbewegung in den beiden vergangenen Jahrhunderten nicht unähnlich ist. Als sich die moderne große Industrie im Rahmen der sich herausbildenden Nationalstaaten etablierte, blieb der jungen Arbeiterbewegung nichts anderes übrig, diese als Arenen des Klassenkampfes anzuerkennen und in ihnen ihren Kampf zu organisieren. In einer historisch mit großen Rückschlägen und furchtbaren Leiden verbundenen Aufholjagd gelang es ihr aber schließlich, sich auf diese neuen Formen einzustellen und den Nationalstaaten sogar ihren prägenden Stempel aufzudrücken, in dem sie sie im 20. Jahrhundert zu Wohlfahrts- bzw. Sozialstaaten umwandelten. Die wichtigsten Stationen dieser Aufholjagd können benannt werden mit dem Kampf um Versammlungs-, Meinungs- und Organisationsfreiheit, der Durchsetzung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts, der Verankerung des Streikrechts und mit der Etablierung des nationalweiten Tarifvertrages.
In einer Situation, in der diese Erfolge heute wieder gefährdet sind bzw. der Weg der nationalen Demokratisierung noch nicht einmal ganz zu Ende gegangen wurde (ich denke dabei z.B. an das immer noch ausstehende Wahlrecht für hier dauerhaft lebende Ausländer), sehen sich die demokratischen Kräfte erneut einer riesigen Aufgabe gegenüber, die möglicherweise noch gigantischer als die bewältigte ist: Der Etablierung einer handlungsfähigen Öffentlichkeit auf europäischer Ebene, der Schaffung wirkungsvoller Organisationen dort und schließlich die Bändigung und Überwindung der Macht der transnationalen Konzerne. Wobei uns auch immer klar sein sollte, daß Europa auch nur ein historischer Zwischenschritt zu noch größeren Einheiten sein wird.

Wie diese Aufgaben im einzelnen anzugehen sind, darüber können wir gegenwärtig nur sehr ungenaue und vorläufige Angaben machen. Ich bin aber fest davon überzeugt, daß wir uns jede Diskussion über einen erneuten sozialistischen Anlauf schenken können, wenn wir uns nicht intensiv mit diesen Fragen beschäftigen.

Gegenwärtig vergrößert sich aber dramatisch der Abstand zwischen der sich mehr und mehr international vollziehenden wirtschaftlichen Regulation und den demgegenüber zurückbleibenden, auf die nationalen Räume beschränkten und in ihnen eingeschlossenen demokratischen Kulturen. Da es auf den internationalen Regulationsebenen eben keine funktionierenden Öffentlichkeiten gibt, kann dieser Mangel auch nicht einfach durch eine kurzfristige politische Anstrengung behoben werden. Geprägt von ihrer jeweiligen Sprache, geformt von Traditionen und gewachsenen nationalen Kulturen, bleiben die Menschen in ihren angestammten Territorien förmlich festgenagelt, während sich zugleich das Kapital immer freier leichtfüßig von einem Ort zum anderen bewegen kann, ohne irgendwelche Grenzen länger beachten zu müssen. Wir sind daher gezwungen, die etablierten demokratischen Mechanismen auf gesamtstaatlicher Ebene aber auch in den Ländern und Gemeinden zu verteidigen und zur Gestaltung der internationalen Integrationsprozesse zu nutzen.
Was ich damit sagen will, ist folgendes: Wir wissen auf der einen Seite um die Unzulänglichkeit, den dynamischen europäischen Integrationsprozeß auf Dauer mit nationalstaatlich gebundenen Willensbildungsprozessen beeinflussen zu können. Wir haben aber gegenwärtig keine andere Wahl, da es eine europäische Zivilgesellschaft mit einer entwickelten Öffentlichkeit, die das Funktionieren einer europäischen Demokratie gestatten würde, eben zur Zeit noch nicht gibt.In dem wir aber das eine tun, dürfen wir das andere nicht lassen, d.h. wir müssen unseren Beitrag für die Entwicklung einer solchen europäischen Zivilgesellschaft schon heute erbringen. Dafür möchte ich ein paar Beispiele nennen:

Ich denke dabei an die Etablierung und den Ausbau regionaler Partnerschaften zwischen den Parteigliederungen verschiedener europäischer Länder. Ihr hier in Sachsen geht mit eurer Zusammenarbeit mit tschechischen und polnischen Linken beispielhaft voran. In dem heute hier vorgelegten Antrag macht ihr den Vorschlag, hier eine Regiestelle zur Zusammenarbeit mit demokratischen Linken vor allem in Ost- und Mittelosteuropa einzurichten. Dies kann ich nur begrüßen. Zugleich kann ich kann mir aber auch vorstellen, daß weitere Gliederungen der PDS auf diesem Gebiet noch aktiver werden könnten. Der Unterhalt von Partnerschaften mit Parteigliederungen befreundeter europäischer Parteien sollte daher ein zentraler Arbeitsschwerpunkt eines jeden Landesverbandes werden.
Aber auch auf Bundesebene muß die Europaarbeit einen sehr viel größeren Stellenwert erhalten. Gegenwärtig gibt es ganze drei hauptamtlich Beschäftigte, die sich dort mit internationaler Arbeit beschäftigen. Sie sind aber nicht nur für Europa, sondern für die gesamte internationale Arbeit zuständig, von Argentinien bis Korea und von Finnland bis Südafrika. Ihr wißt alle selbst sehr viel besser als ich, wieviel Personal gegenwärtig mit der Verwaltung der eigenen Partei beschäftigt ist. Die drei Stellen für die internationale Arbeit dürften da nur ein winziger Bruchteil sein. Dies muß sich ändern.
Die PDS ist aktiv in europaweiten Aktionsbündnissen, etwa bei den Euromärschen und in Initiativen zur Vollbeschäftigung. Wir brauchen aber auch einen ständigen politischen Meinungsaustausch innerhalb der europäischen Linken. Doch gibt es zur Zeit kein solches Diskussionsforum, weder zwischen den Parteien, die sich im Neuen Europäischen Linken Forum zusammengeschlossen haben, noch von den in unserer gemeinsamen Fraktion vertretenen Parteien. Im Zeitalter des Internets dürfte die Schaffung einer europaweiten Diskussionsbühne aber doch kein unüberwindliches Problem mehr darstellen.
Und schließlich: Wir brauchen dringend eine europaweite Partei, in der die Linksparteien innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vertreten sind. Alle unsere wichtigsten Konkurrenten verfügen bereits über einen solchen Zusammenschluß. Sowohl die Konservativen, die Sozialdemokraten, die Grünen als auch die Liberalen arbeiten, teilweise bereits seit Jahren, in solchen Parteien. Mit der Gründung einer europaweiten Partei wäre es auch an der Zeit, sich einen attraktiveren Namen zuzulegen. Unsere jetzige Bezeichnung „Konföderale Fraktion der vereinten europäischen Linken/Nordische Grüne Linke“ ist ja nun so werbend nicht.
All das wären erste kleine Schritte, die wir bereits jetzt zur Schaffung einer europäischen Zivilgesellschaft beisteuern können.

Zugleich müssen wir heute darauf achten, daß die hier so mühsam erkämpften demokratischen Rechte auf der Ebene des Bundes, der Länder und der Gemeinden nicht durch hinter verschlossenen Türen in Brüssel getroffene Entscheidungen ausgehöhlt und schließlich gegenstandslos werden. Man muß ja nicht Deutschland unbedingt lieben, um dennoch die hier erreichten, aus der Souveränität des Volkes entsprungenen sozial- und rechtsstaatlichen Errungenschaften für schützens- und verteidigungswert zu erachten.

Was sind hier die wichtigsten Aufgaben?`

Die Mitgestaltungsrechte des Deutschen Bundestages in der Europapolitik sind deutlich zu erweitern. In unserem Wahlprogramm heißt es: „Die PDS befürwortet verbindliche Schritte, um den nationalen parlamentarischen Prozeß in die Entscheidungsfindung auf der Ebene der Europäischen Union einzufügen.“ Dabei geht es vor allem um mehr Zuständigkeiten für den Ausschuß für die Angelegenheiten für die Europäische Union. Er wurde 1992 im Zusammenhang mit der Billigung des Vertrages von Maastricht eingerichtet, da bereits damals die mangelnde Transparenz der europapolitischen Arbeit der Bundesregierung immer wieder kritisiert wurde. Gegenwärtig hat der Ausschuß aber nur das Recht zu einer „beratenden Kontrolle“. Nicht selten ist es aber so, daß er erst im nachhinein über das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung im Europäischen Rat informiert wird. Wir sollten uns hier an der Praxis des dänischen Folketings orientieren, danach bedarf die dänische Regierung für jede legislative Stimmabgabe im Ministerrats eines Mandats, das von einem besonderen Ausschuß des Folketing erteilt wird.
In den für die europäische Integration grundlegenden Fragen müssen die Mitgliedsländer das letzte Wort behalten. Bei ihnen muß daher auch das Recht verbleiben, wichtige Entscheidungen notfalls mit einem Veto blockieren zu können. So ist für uns klar, daß Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, d.h. Fragen über Krieg und Frieden, nicht in ein Mehrheitsverfahren gehören. Hier muß für unser Land der Deutsche Bundestag das letzte Wort behalten. Wir müssen uns daher von der Vorstellung lösen, daß die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat quasi automatisch zu einem mehr an Demokratie führt.
Wir brauchen eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Auch hier darf ich an den Wortlaut unseres Europawahlprogramms erinnern: „Das Europäische Parlament ist die einzige EU-Institution, deren Zusammensetzung die Bürgerinnen und Bürger durch demokratische Wahlen direkt bestimmen. Es muß dem Ministerrat bei allen legislativen Entscheidungen der gemeinschaftlichen Rechtsetzung des Binnenmarktes sowie in allen Politikbereichen, in denen der Rat mit Mehrheit entscheidet, gleichgestellt werden.“
Und schließlich: Es bedarf einer klaren Abgrenzung der Kompetenzen der Europäischen Union, die verhindert, daß immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens mittels des fragwürdigen Hebels der Europäisierung unter die Dominanz der Profitwirtschaft gezwungen werden. Widerstand dagegen hat sich in den letzten Jahren in den Kommunen entwickelt. Dort wurde erkannt, daß etwa die Liberalisierung in der Strombranche und die geplante Marktöffnung im öffentlichen Personennahverkehr den Kern des gemeindlichen Daseins und damit der kommunalen Selbstbehauptung aushöhlen. Ein erster Erfolg dieses Widerstands wurde schon sichtbar. Von der Europäischen Kommission wurde eingestanden, daß zumindest nichtwirtschaftliche Dienstleistungen – also soziale, kulturelle und bildungspolitische Angebote – von der europäischen Beihilfenkontrolle ausgenommen sein sollen. Die Bundesländer sind wiederum in Brüssel vorstellig geworden, um die Erhaltung der öffentlich-rechtlichen Kreditwirtschaft, von den Sparkassen bis zu den Landesbanken und die Unversehrtheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu erreichen. Obwohl nicht wenige sozialdemokratische Ministerpräsidenten und Oberbürgermeister zu den Kritikern dieser „Landnahmepolitik“ der EU gehören, werden sie von der Bundesregierung weitgehend allein gelassen. Die PDS sollte sich solidarisch zu diesem Widerstand verhalten und ihre Möglichkeiten, sei es in der Opposition oder in der Regierungsverantwortung nutzen, um ihn zu stärken. Ich freue mich, daß ihr euer Nein zu dieser Liberalisierung in eurem Antrag so klar und unmißverständlich ausgesprochen habt.
Ihr habt euren europapolitischen Antrag mit der Losung überschrieben: „Die europäische Integration muß gelingen“ Ja, sie muß gelingen, wollen wir uns die Chance erhalten, der sich vollziehenden wirtschaftlichen Integration eine politische Integration mit der Perspekive einer europäischen sozialistischen Entwicklung folgen zu lassen. Dies erfordert große Anstrengungen und die Veränderung unseres jetzt noch ganz auf den nationalen Rahmen beschränkten Denkens und Handels. Entscheidend ist aber heute, ob wir die Idee eines einigen Europas gegenüber denen bewahren können, die – wie die transnationalen Konzerne – die europäische Integration lediglich als Hilfsmittel zur Durchsetzung ihrer Profitinteressen nutzen wollen. Darauf kommt es jetzt an!