EU-Gipfel in Lissabon: Vorwärts zur ‚Vollbeschäftigung‘?
Ein Dritter Weg für Europa oder die soziale und ökologische Politische Union
Revolutionäre Dinge ereignen sich derzeit in Europa, von denen die politische Öffentlichkeit kaum Notiz nimmt. Unter dem Motto „Beschäftigung, Wirtschaftsreformen, und sozialer Zusammenhalt – auf dem Weg zu einem Europa der Innovation und des Wissens“ findet am 23. und 24. März 2000 in Lissabon ein EU-Gipfel statt, von dem – durchaus zu Recht – bedeutsame Weichenstellungen erwartet werden. Die Frage ist nur, worin die Wandlungen bestehen und wie man sie bewertet.
In ihrem Vorbereitungsdokument für den Gipfel schlägt die portugiesische Regierung vor, „die Bedingungen für Vollbeschäftigung wiederzugewinnen“, die den Bedürfnissen der entstehenden „Wissensgesellschaft“ entsprechen. Der Gegensatz zur beschäftigungspolitischen Passivität der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 ist zweifelsohne evident. Die Europäische Kommission stößt in ihrem neuen Strategiedokument für die Periode 2000 – 2005 ins gleiche Horn: Vollbeschäftigung als neues Ziel der europäischen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Der ehemalige französische Premierminister Michel Rocard sekundiert: die Mitgliedstaaten sollten „ein Ziel der Vollbeschäftigung für die Union fördern und die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten in Einklang mit diesem Ziel festlegen.“ (1) Er moniert, dass die Koordination der Wirtschafts- und Währungspolitik und der Beschäftigungspolitik in Europa zu wenig ambitioniert, zu wenig transparent und nicht effektiv genug sei. Die Portugiesen sehen das ähnlich und fordern eine engere Abstimmung der gesamtwirtschaftlichen und der Beschäftigungspolitik. (2)
Der Vorstoß Rocards lässt vermuten, dass die französische Ratspräsidentschaft ab Juli 2000 die Steilvorlage der Portugiesen in Sachen Vollbeschäftigung aufgreifen möchte, um sie unter ihrer Ägide zum Torschuss zu verwandeln. Schließlich nutzt Regierungschef Lionel Jospin jede Gelegenheit, die sozialdemokratischen Werte der Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit und der Vollbeschäftigung variantenreich als Leitziele europäischer Politik zu beschwören. Kommt nun die heiß ersehnte Wende zur „Sozialdemokratie pur“ in Europa – seit Schröders Amtsantritt nach nunmehr zwei Jahren harter Haushaltskürzungen für einen „stabilen Euro“ und einer zahnlosen, unverbindlichen europäischen Beschäftigungspolitik in der Tradition Helmut Kohls? Hat der „Haider-Schock“ Europas Mitte-links-Regierungen jetzt so aufgerüttelt, dass sie offensiv für eine Renaissance des „sozialen Europa“, einer „Europäischen Wirtschaftsregierung“ und einer „Europäischen Beschäftigungsunion“ in der Tradition des populären ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors streiten wollen?
Vollbeschäftigung – Vorbild USA
„Lesen Sie das Kleingedruckte,“, möchte man warnen. Was versteht die europäische „neue Sozialdemokratie“ unter Vollbeschäftigung und mit welchen Mitteln will sie sie herbeiführen? Die portugiesische Regierung hat offenbar das Vorbild der USA im Sinn: die Europäische Union soll zur wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt gemacht werden, mit einer dynamischen Kultur des Unternehmertums. Diese Melodie kommt uns bekannt vor: schon die Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen forderte eine „neue Kultur der Selbständigkeit“, ebenso wie die Schröder-Thesen vom Herbst 1997 und ein gemeinsames Strategiepapier des bündnisgrünen Realo-Vordenkers Hubert Kleinert und des SPD-Technikexperten Sigmar Mosdorf. (3) Werden unternehmerischer Geist und unternehmerische Tatkraft auf allen Feldern ermutigt, so könne auch Europa den Sprung in die New Economy nach dem Vorbild der USA schaffen – mit hohen Wachstumsraten und niedriger Arbeitslosigkeit. Voraussetzung sei ein europäischer Aufholprozess beim gewaltigen technologischen Fortschritt in den Leitsektoren der Informationstechnologie, eine hohe Effizienz auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten und eine hoch wettbewerbsfähige, von Regulierungen befreite Marktstruktur. Bezeichnend ist die Sprache, mit der Kommissionspräsident Prodi seine Politik am 15. Februar im Europäischen Parlament charakterisierte: „Wenn uns eine Politik am Herzen liegt, so die Wettbewerbspolitik.“ Die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft und die Europäische Kommission fordern einen policy mix entlang dieser Zielrichtung, der auf mehreren Säulen aufbaut.
Der erste Pfeiler einer neuen Wirtschaftspolitik soll eine beschleunigte Innovation sein: High Tech-Förderung in den traditionellen Branchen wie Automobilindustrie, Maschinenbau, Chemie, verbunden mit einer Stärkung der Gentechnologie und der Erschließung neuer Wachstumsfelder in der Nanotechnologie. Der Schwerpunkt liegt derzeit auf dem Aufbau einer europäischen Internetökonomie. Die Voraussetzung dafür sei die Förderung eines breiten Computerwissens (Europäischer Führerschein für den Umgang mit Informationstechnologien), des lebenslangen Lernens und von hochflexiblen, dynamischen Unternehmensstrukturen. Im Zentrum steht die Initiative e-Europe, mit der die Europäische Kommission eine markt- und technikgetriebene Cyberspace-Ökonomie etablieren will.
Den zweiten Pfeiler bilden Strukturreformen im Europäischen Binnenmarkt: ein gewaltiger Ausbau der EU-Finanzmärkte insbesondere durch neue Finanzdienstleistungen, eine Liberalisierung des elektronischen Handels (e-Commerce), eine gestärkte Börsenkapitalisierung europäischer Unternehmen. Die vorgeschlagenen „Strukturreformen“ folgen dem bekannten Muster der Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik, die zuvor etwa in der Telekommunikationsbranche, bei Post und Bahn sowie mit dem Energiebinnenmarkt durchgesetzt wurden. Innovation und Strukturreformen sollen zu einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von mindestens 3 Prozent führen und so dauerhaft Arbeitsplätze schaffen.
Den dritten Pfeiler soll die Schließung der „Dienstleistungslücke“ gegenüber den USA darstellen. Die europäische Position ist ambivalent: einerseits wird betont, dass die „Wissensgesellschaft“ qualifizierte Dienstleistungsarbeitsplätze erfordert. Wie die dafür nötige breite Qualifizierungsoffensive finanziert werden soll, bleibt unklar. Andererseits bezeichnet die Kommission Tony Blairs „New Deal“-Programme, die auf Arbeitszwang und Billigjobs beruhen, als positives Beispiel für Europa. Die europäische „Beschäftigungspolitik“ wird insgesamt als Querschnittsaufgabe angelegt. Sie soll das Unternehmertum in den Wachstumsbereichen fördern, die Anpassung von Arbeitnehmern und Unternehmen an den Strukturwandel beschleunigen, die „Beschäftigungsfähigkeit“ der Modernisierungsverlierer wieder herstellen und durch eine „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ mit Zuckerbrot und Peitsche (Kürzung staatlicher Unterstützungsleistungen) dem Dienstleistungssektor vor allem im Niedriglohnbereich neue Arbeitskräfte zuführen.
Den vierten Pfeiler bildet die gesamtwirtschaftliche „Stabilitätspolitik“ für den Euro: die Inflationsrate in Euroland darf nur zwischen 0 und 2 Prozent schwanken. Die rigide Politik der Haushaltskonsolidierung geht weiter, so dass die Mitgliedstaaten mittelfristig Haushaltsüberschüsse ausweisen können.
Die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament trägt diesen Kurs in Gänze mit. Sie merkt lediglich an, dass die europäische Beschäftigungspolitik den Ausbau des „Dritten Sektors“ stärker fördern soll. (4) Sie lässt offen, ob es um qualifizierte, tarif- und sozialrechtlich gesicherte Arbeitsplätze in der Sozial- und Kulturwirtschaft, in Umweltschutz und Stadterneuerung usw. geht, oder ob der Non-Profit-Bereich eine Unterabteilung des angestrebten Niedriglohnsektors sein soll.
Soweit gibt es wenig Neues unter der europäischen Sonne. Denn das „Reformpaket“ der Mitte-Links-Regierungen kann nicht verdeutlichen, warum die Fortsetzung der Politik der Vergangenheit – Bangemann-Initiative zur „Informationsrevolution“, Liberalisierung des Binnenmarkts und Entfesselung der Finanzmärkte, rigide Geldpolitik und ein harter Sparkurs bei den öffentlichen Finanzen – nun wundersamerweise zur „Vollbeschäftigung“ führen sollte. Schließlich war in den letzten 10 – 15 Jahren das Gegenteil der Fall.
Europa als Motor der Sozialstaats-„Reform“
Neu ist der fünfte Pfeiler: die Modernisierung der Sozialsysteme, basierend auf Vorschlägen der Kommission in einer Mitteilung aus dem Jahr 1997. (5) Sie ist das bisher noch fehlende Gegenstück zum „Reformkurs“ in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Zu Recht wird durch Kommission und Präsidentschaft auf den engen Zusammenhang mit der Beschäftigungssituation in den EU-Ländern verwiesen. Das jedoch äußert sich primär am Problem der „Beschäftigungsquote“, die in der EU nur bei ca. 60% gegenüber 75 % in den USA und Japan liege. Der Maßstab USA schlägt sich folgerichtig auch in den konkreten Orientierungen nieder. „Steigerung der Beschäftigungs- und Anpassungsfähigkeit“ der Erwerbstätigen lautet die eine, den Sozialschutz in der EU an die Erfordernisse der Globalisierung und der neu entstehenden „Wissensgesellschaft“ anpassen, die andere Devise. Abkehr vom Modell des „männlichen Familienernährers“ durch die Individualisierung des Sozialversicherungsschutzes und der Steuersysteme, Kostensenkung im Gesundheitswesen und gleichzeitige Erhöhung der Qualität durch die Einführung wettbewerblicher Elemente im Gesundheitsschutz, „Entlastung“ der gesetzlichen Rentenversicherung durch den Aufbau europaweit operierender Betriebsrentensysteme und Pensionsfonds, Integration der sozial Ausgegrenzten durch eine neue Balance zwischen sozialen Rechten der Einzelnen und Pflichten gegenüber der Gesellschaft („Fördern und Fordern“) lauten die Stichworte. Die Philosophie des US-amerikanischen „Welfare to work“ und der Übergang zu einer individualisierten, kapitalgedeckten Altersvorsorge spielen auch die Leitmelodie zu dieser „Modernisierung“ des Europäischen Sozialmodells. In Analogie zur Koordinierung der Beschäftigungspolitiken der Mitgliedstaaten soll es künftig zu einer Zusammenarbeit in der Sozialpolitik kommen – allerdings mit einem nochmals geringeren Grad an Verbindlichkeit für die einzelnen Mitgliedstaaten. Die Zusammenarbeit bezieht sich im wesentlichen auf den Austausch von Informationen, die Erarbeitung von Modellprojekten und einen Vergleich „bester Praktiken“ (Benchmarking) in den genannten Bereichen.
Besonders augenfällig ist der vorgeschlagene Kurswechsel in der Alterssicherung. Angesichts der demographischen Entwicklung mit einem stetig wachsendem Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung soll die bisherige Politik der Frühverrentung gestoppt werden. Andernfalls komme es etwa ab dem Jahr 2015 zu Engpässen auf dem Arbeitsmarkt, weil dann zu wenig junge Menschen in die Erwerbsarbeit nachrücken. Die Belastung für die Altersversorgungssysteme werde untragbar. Notwendig sei eine „aktive Altenpolitik“, die ältere Erwerbstätige zumindest bis zum Erreichen des gesetzlichen Rentenalters von 65 Jahren in Arbeit hält – wenn nötig auch darüber hinaus. Flexible Altersteilzeit und verstärkte Weiterbildung für ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bilden den Kern dieser Politik. Älteren Menschen, für die das angestammte Unternehmen keine Verwendung mehr hat, sollen Alternativen angeboten werden: Kurzfristige Beschäftigung im „Dritten Sektor“, neue Selbständigkeit, Zeitverträge, Leiharbeit, Teilzeitarbeit im Dienstleistungssektor. Der große Hit ist die Einbindung älterer Erwerbspersonen in gemeinnützige Gemeindearbeit: „den Dienstleistungsempfängern bringt es Vorteile, die älteren Menschen ( ) werden durch die neuen Kontakte geistig und mental angeregt und gewinnen das Gefühl persönlicher Genugtuung und Erfüllung, und schließlich können kommunale Dienstleistungen sehr kostengünstig erbracht werden.“ (6) Auch hier sollen „Anreizsysteme“ dafür sorgen, dass ältere Erwerbspersonen diese gütigen Angebote von Billigjobs und prekärer Beschäftigung nicht einfach ablehnen können.
Der „Dritte Weg“ in Europa
Die neue „Politik für Vollbeschäftigung“ orientiert sich damit eher am Leitbild des mittelalterlichen Arbeitshauses als an den tradierten sozialdemokratischen Idealen. Das europäische „Reformpaket“ erweist sich als „Revolution von oben“, die die Fundamente des Europäischen Sozialmodells erschüttert. Es folgt insgesamt der Logik des „Dritten Wegs“, trotz mancher alt-sozialdemokratischer Einsprengsel hier und da. Die europäische Politik entwirft ein Konzept für eine Zweidrittel-Gesellschaft eigener Art. Die konfliktfähigen Gruppen – qualifizierte Erwerbstätige vom Facharbeiter bis zum „Symbolanalytiker“ sowie die Unternehmer – versucht man durch eine Konsenspolitik unter dem Primat der „Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa“ aneinander zu binden. Sie sollen von einer Politik der Steuersenkung und der Beitragsstabilisierung in der Sozialversicherung profitieren. Durch die Beteiligung an Investment- und Pensionsfonds sollen sie am Höhenflug der Börsenkurse so teilhaben, dass sie das Einfrieren und Herunterfahren sozialversicherungsrechtlicher und sozialstaatlicher Leistungen verkraften können. Solange der Börsenboom anhält, mögen vor allem junge Menschen an die Tragfähigkeit dieser Alternative glauben – so wie in ihren Kindertagen an den Weihnachtsmann.
Die konfliktunfähigen Gruppen – marginalisierte Jugendliche, Frauen ohne höhere Qualifikationen, Migrantinnen und Migranten, ältere Arbeitnehmer und die sozial Ausgeschlossenen – werden im „Eisernen Käfig“ von Niedriglohnarbeit, Teilzeitjobs und prekärer Beschäftigung ruhig gestellt und nach dem Motto „Fördern und Fordern“ repressiv „integriert“. Jede und jeder soll das Gefühl haben, nicht alleine gelassen zu werden. Das ist der Unterschied zur Philosophie Margaret Thatchers, die bekanntlich „nur Individuen, aber keine Gesellschaft“ kannte. Das Europa des Dritten Wegs betont dagegen Kräfte und Mechanismen, die eine Gesellschaft als solche zusammenhalten, opfert aber ebenfalls den Gedanken sozialer Gerechtigkeit.
Den Modernisierungsgewinnern wird das Gefühl vermittelt, „Solidarität“ mit dem unteren Drittel zu üben. Schließlich bietet die „aktivierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik“ jeder und jedem eine „zweite Chance“, sich als erwerbsfähige Person zu bewähren. Für das untere Drittel winkt das Versprechen, dass man etwas oberhalb des Existenzminimums irgendwie zurechtkommen kann, wenn man sich anstrengt. Das wirkt immer noch besser, als dass man für völlig überflüssig erklärt wird wie weiland bei Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Gleichzeitig fungieren beide Gruppen als Projektionsfläche für Erwartungen: das untere Drittel wiegt sich stets in der Hoffnung, durch eigene Qualifizierungsanstrengungen doch noch den Anschluss an die schöne Welt der Modernisierungsgewinner zu finden. Letzteren dient das untere Drittel als abschreckendes Beispiel, wohin man rutschen kann, wenn man sich nicht genügend an die „Erfordernisse der Globalisierung“ anpasst. Insgesamt, so die Hoffnung der Strategen des Dritten Wegs, stabilisieren die Projektionen beider Gruppen damit den etwas eigenartigen „sozialen Zusammenhalt“ dieser Art von Gesellschaft.
Optionen für die Linke
Während die europäische Sozialdemokratie Stück um Stück das Ziel einer egalitären, solidarischen Gesellschaft zur Disposition stellt, muss die sozialistische Linke inzwischen sogar für den Erhalt liberaler Bürgerrechte kämpfen – etwa das Recht auf Freiheit der Berufswahl oder den Schutz erworbener Qualifikationen gegen die Zwangsangebote des „Förderns und Forderns“. Europa braucht eine Alternative zum „Dritten Weg“, wenn wir das Europäische Sozialmodell erneuern und unsere Gesellschaft zukunftsfähig machen wollen. Der Streit geht um den Gehalt jener „neuen Vollbeschäftigung“, den Kommission und Regierungen zum europäischen Leitziel erheben wollen.
Der geforderte Abschied vom patriarchalischen Modell des männlichen „Familienernährers“ weist in die richtige Richtung. Allerdings ist das alternative Leitbild des Doppelverdiener-Haushalts und einer Individualisierung der Steuer- und Sozialversicherungssysteme in der EU nur sehr unvollkommen verankert. Vielleicht mit Ausnahme von Dänemark und Schweden basieren die Haushalte mit zwei Einkommen in Europa in der Regel auf männlicher Vollzeitbeschäftigung und weiblicher Teilzeitbeschäftigung. (7) Reale Chancengleichheit für Frauen herzustellen und Erwerbs- und Hausarbeit zu gleichen Teilen zwischen den Geschlechtern aufzuteilen, bleibt immer noch die große Reformaufgabe. Egalitäre Erwerbsmuster erfordern einen massiven Ausbau öffentlicher Kinderbetreuungseinrichtungen und individualisierte Steuersysteme mit spezifischen Transferleistungen für Kinder (Sockelbeträge, erhöhtes Kindergeld) – unabhängig davon, ob beide Elternteile arbeiten und egal, ob sie verheiratet sind.
Neue Vollbeschäftigung zielt auf qualifizierte, angereicherte Erwerbsarbeit mit auskömmlichen Einkommen – das US-Modell mit einer breiten Schicht arbeitender Armer kann kein Vorbild für Europa sein. Zu seiner Verwirklichung brauchen wir einen anderen policy mix, als ihn die Europäische Kommission und die Regierungschefs vorschlagen: eine europaweit koordinierte expansive Haushaltspolitik zur Stärkung öffentlicher Investitionen und zukunftsfähiger Infrastrukturen, eine gelockerte Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, eine moderne Innovationspolitik im Dienste des ökologischen Umbaus, Wirtschaftsreformen zur Regulierung der Finanzmärkte, zur Stärkung der Binnenwirtschaft und zum Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe, Investitionen in qualifizierte Dienstleistungen auch im öffentlichen Dienst und in einem neuen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor zur Stärkung der Sozial- und Kulturwirtschaft, der Stadterneuerung und des Umweltschutzes. Eine europäische Politik der kollektiven Arbeitszeitverkürzung, die gleichzeitig die Zeitsouveränität der einzelnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fördert, ist die zentrale Achse auf dem Weg zur Vollbeschäftigung mit egalitären Erwerbsmustern.
Die „neue Sozialdemokratie“ hat linke Schlüsselbegriffe der 80er Jahre neoliberal gewendet und ihre ursprünglichen Inhalte verdreht: von der „Vollbeschäftigung“ über die „Teilhabegesellschaft“, die „Zukunftsfähigkeit“, das „Empowerment“ bis hin zum „aktiven Staat“. Sie nutzt die mit ihnen verbunden Hoffnungen auf eine solidarische Zukunft, um Wasser auf die Mühlen ihres „Dritten Weges“ zu leiten. Die europäische Linke muss frei nach Antonio Gramsci einen Kampf um die Köpfe führen, der gleichzeitig ein Kampf um den aktualisierten Inhalt dieser europäischen Leitbegriffe ist. Die Alternative einer sozialen und ökologischen Politischen Union Europas kann nur in direkter Auseinandersetzung mit den Schlüsselbegriffen und -konzepten des Dritten Weges diskurs- und konfliktfähig gemacht werden.
Die Chance der Linken liegt in den Widersprüchen der neu-sozialdemokratischen Strategie selbst: die Entfesselung der Märkte und die Internet-Revolution werden nicht jenen Zuwachs an Arbeitsplätzen bringen und damit jene soziale Stabilität herbeiführen, die eine Stilllegung jeglichen gesellschaftlichen Konfliktpotenzials erlaubt. Die „neue Mitte“ ist kein festgefügter Block, sondern sie wird sich in Oben und Unten differenzieren. Die politische Kunst im Erneuerungsprozess der europäischen Linken besteht darin, als Katalysator für Allianzen zwischen wichtigen Segmenten der „neuen Mitte“ (qualifizierte Facharbeiter, Ingeneurinnen, ökologisch sensibilisierte neue Selbständige, kritische Wissenschaftlerinnen etc.) und den tragenden Gruppen des unteren Drittels der Gesellschaft zu wirken, die auf gemeinsamen Interessen gründen. Je besser dies gelingt, umso unglaubwürdiger wird künftig der Rekurs der neuen Mitte auf Margaret Thatchers alter und Hans Eichels neuer Standardformel wirken: „Es gibt keine Alternative“.
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(1) Europäische Kommission: Das neue Europa gestalten. Strategische Ziele 2000 – 2005; KOM (2000) 154, Brüssel, 9.2.2000. Michel Rocard: Entwurf einer Stellungnahme zum Jahreswirtschaftsbericht 1999 der Europäischen Kommission, Brüssel, 26.1.2000, PE 232.963
(2) Rat der Europäischen Union, Dokument des Vorsitzes: Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und sozialer Zusammenhalt – Für ein Europa der Innovation und des Wissens; 5256/00, Brüssel, 12. Januar 2000
(3) Eckpunkte einer sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformpolitik, Thesenpapier des wirtschaftspolitischen Diskussionskreises der SPD, September 1997; in: Die Zeit vom 19.9.1997; Sigmar Mosdorf/Hubert Kleinert: Renaissance der Selbständigkeit, in: Der Spiegel 13/1997
(4) SPE-Fraktion im EP: Die Sozialisten und der Einsatz des Europäischen Parlaments für Stabilität, stetiges Wachstum, Vollbeschäftigung und die qualitative Verbesserung des Sozialen Europa – Neue europäische Ambitionen für das neue Jahrtausend, Brüssel, Dezember 1999
(5) Mitteilung der Kommission: Modernisierung und Verbesserung des Sozialschutzes in der Europäischen Union, KOM (1997) 102; Wieder aufgegriffen in der Mitteilung der Kommission: Eine konzertierte Strategie zur Modernisierung des Sozialschutzes, KOM (1999) 347
(6) Mitteilung der Kommission: Ein Europa für alle Altersgruppen – Wohlstand und Solidarität zwischen den Generationen, KOM (1999) 221
(7) Siehe hierzu Irene Dingeldey: Begünstigungen und Belastungen familialer Erwerbs- und Arbeitszeitmuster in Steuer- und Sozialversicherungssystemen. Ein Vergleich zehn europäischer Länder, IAT Gelsenkirchen, 1999