Europäische Leidkultur
Angela Marquardt/André Brie – Kolumne für die Mitgliederzeitschrift der PDS „DISPUT“, Dezember 2000
Der EU-Gipfel von Nizza wurde von den Regierungen als historisch, von den Medien als enttäuschend eingeschätzt. Es gibt unzweifelhaft eine wichtige positive Nachricht: Der Europäische Rat hat den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur Europäischen Union grundsätzlich möglich gemacht. Wie immer man die Erweiterung ansonsten einschätzen mag, dass der Wunsch dieser Länder Mitglied der EU zu werden, zu respektieren ist, und die EU kein exklusiver Klub bleibt, muss unterstützt werden.
Vor allem aber sind in Nizza die Aussichten, die Erweiterung im besonderen und die EU-Entwicklung im allgemeinen demokratisch und sozial auszurichten, weiter verringert worden. Die EU-Kommission ist zugunsten eifersüchtiger Machtbalance im Rat geschwächt, das Europäische Parlament kaum einbezogen, die Grundrechtecharta – zugespitzt gesagt – zu einer feierlichen Presseerklärung degradiert worden. Zugleich ist eine bornierte Orientierung auf den Nationalstaat in einer solchen Stärke zurückgekehrt, dass auch Zweifel am Fortgang der europäischen Integration überhaupt angebracht sind. Möglicherweise bleibt von ihrer Idee nur ein von der gemeinsamen Währung unsozial, undemokratisch und beschäftigungsfeindlich zusammengepresste gemeinsame Wirtschaftsraum übrig, der sich von Osteuropa und dem Süden der Erde ökonomisch, politisch und militärisch abschottet.
Nationale Egoismen haben sich in Nizza durchgesetzt: das Bestreben Deutschlands, die längst zur Geltung gebrachte ökonomische und finanzpolitische Vorherrschaft nun auch in stärkere politische Dominanz umzusetzen, Frankreichs Interesse, sich Deutschland nicht noch weiter unterzuordnen, Großbritanniens Desinteresse an einer weiterreichenden europäischen Integration, die Furcht Spaniens, Portugals und anderer Länder, die EU-Mittel nach der Erweiterung mit Polen, Tschechien, Ungarn … teilen zu müssen. So wie innerhalb der Staaten der sozialstaatliche Verteilungskompromiss von den Unternehmerverbänden, den Großbanken und den immer einflussreicheren Anlagegesellschaften aufgekündigt wurde, so ist auch international, insbesondere zwischen den USA und der EU und innerhalb der Europäischen Union der Kampf um Macht und Einfluss entfesselt worden. Der staatliche Nationalismus droht den Rassismus und Rechtsextremismus innerhalb der Gesellschaften zu ergänzen.
Die in Deutschland aufgeflammte Diskussion um die Nation und eine deutsche Leitkultur muss in diesen großen Kontext eingeordnet werden. Es geht auch uns nicht um die Entmachtung der einzelnen Staaten und um einen angeblichen „europäischen Superstaat“. Aber demokratische, soziale und ökologische Antworten auf die weitere Internationalisierung von Ökonomie und Finanzbeziehungen sowie die Globalisierung unserer gemeinsamen Existenzbedingungen sind nach unserer Überzeugung nicht allein in den „Nationalstaaten“ möglich. Im Gegenteil. Die bisherige Schwäche moderner linker Alternativen und die Hinwendung der europäischen Sozialdemokratie zur neoliberalen und nationalen neuen Mitte wird von den Konservativen dafür genutzt, ihre marktradikale Globalisierungspolitik mit einem „kulturellen“ Nationalismus zu verbinden.
Friedrich Merz wird es nicht tatsächlich um die Verteidigung einer „deutschen Leitkultur“ gegangen sein, von der niemand sagen kann, ob sie von Big Brother, Hip- Hop, Coca Cola, Döner, Bill Gates, dem Österreicher Mozart, dem Weltbürger Thomas Mann oder der Ostdeutschen Stefanie Hertel repräsentiert wird. Klar sein dürfte, dass ein großartiger Teil der deutschen und anderen westeuropäischen Kulturen vor einem knappen Jahrtausend arabischer Herkunft war. Unsere Zahlen erinnern daran bis heute. Ohne die muslimischen Araber wären Kultur und Wissensstand der Antike, auf deren Wurzel sich die „christlich-abendländische Kultur“ so gern beruft, in der Finsternis des europäischen Mittelalters untergegangen.
Wenn die CDU in ihren Positionen zur Einwanderung die „deutsche Leitkultur“ nun plötzlich scheinbar nicht mehr national, sondern als Bekenntnis zu den Grundrechten und -werten des Grundgesetzes bestimmt, so wird die ganze Fragwürdigkeit dieses Begriffes offenbar. Niemandem muss man erzählen, dass das Grundgesetz nicht nur unter dem massiven Einfluss der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsmacht zustande kam, sondern – und das ist einer seiner großen Vorzüge – in der Menschenrechts- und Verfassungstradition des englischen Habeas Corpus Act von 1679 sowie der amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen vom Ende des 18. Jahrhunderts steht. Die universellen (!) politischen und sozialen Menschenrechte – das eben wäre die moderne humanistische Grundlage einer Bürgerrechtsgesellschaft.
Worum es Merz jedoch ging, war ein völlig anderes, dennoch damit zusammenhängendes Problem: Die CDU hat in den vergangenen Wochen eine radikale Kehrtwendung gemacht und unter dem Druck der Wirtschaft die bisher massiv geleugnete Tatsache anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und sein muss. Damit das erstens nicht zu Einbrüchen im nationalkonservativen Teil ihrer Wählerschaft führt, soll diese mit nationalem Pathos versöhnt werden. Zweitens wollen CDU und CSU das individuell einklagbare Asylrecht beseitigen und die Einwanderung wirtschaftlichen „Nützlichkeitskriterien“ unterwerfen. Die Akzeptanz einer „deutschen Leitkultur“ scheint das geeignete Mittel für eine derartige Auswahl der Gewünschten. Solche Erwägungen sind anachronistisch, inhuman und Wasser auf die Mühlen nationalistischer Deutschtümelei.
Quelle:
„DISPUT“, Dezember 2000