e-Europe: Überholen ohne Einzuholen?
Die neue, alte EU-Strategie für die ‚Informationsgesellschaft‘
Die Europäische Kommission hat zum EU-Gipfel in Santa Maria da Feira am 19. und 20. Juni 2000 einen Aktionsplan zur Beschleunigung des Strukturwandels durch Informations- und Kommunikationstechnologien eingebracht. Unter dem Titel „e-Europe – eine Informationsgesellschaft für alle“ will sie den Wandel zur New Economy nach dem Vorbild der USA vorantreiben: „Der Aufschwung digitaler Technologien, im Zusammenhang mit flexiblen Arbeits- und Kapitalmärkten und geringen Wettbewerbsbeschränkungen, haben zu einem Produktivitätszuwachs geführt und den Weg für das dauerhafte, starke und inflationsfreie Wirtschaftswachstum in den USA gelegt.“ (1) Europa könne durch eine Kombination seiner Stärken in der Mobilkommunikation mit einer „digitalen Alphabetisierung“ der Bürger beim nächsten großen Sprung in die drahtlose Internet-Welt führend sein. Die USA „Überholen ohne einzuholen“ lautet die europäische Devise – wie früher jene der realsozialistischen Staaten.
In der EU sieht die Kommission große Defizite, die es zu überwinden gelte. Der Zugang zu Internet und elektronischem Handel sei zu teuer, zu unsicher und zu langsam. Die Bürgerinnen und Bürger seien in unzureichendem Maß „digital mündig“, die Unternehmenskultur zu wenig dynamisch und dienstleistungsorientiert und der öffentliche Sektor im Internetbereich zu inaktiv. Deshalb schlägt der Aktionsplan der Kommission elf Aktionsbereiche vor unter drei Schwerpunktthemen vor, mit denen der Wandel durch europäische Initiativen beschleunigt werden soll. Schwerpunkt eins zielt auf ein billigeres, schnelleres und sichereres Internet mit den Aktionsbereichen billigerer und schnellerer Internetzugang, schnelles Internet für Wissenschaft und Studierende, sichere Netzwerke und intelligente Chipkarten. Schwerpunkt zwei hat die Überschrift „In die Menschen und ihre Ausbildung investieren“. Er enthält die Aktionsbereiche digitale Alphabetisierung der Jugend, Arbeiten in der Wissensgesellschaft sowie die Teilhabe von Behinderten und anderen marginalisierten sozialen Gruppen an der Wissensgesellschaft. Schwerpunkt drei zielt auf Anreize zur Nutzung des Internets: die Förderung von e-Commerce, Gesundheitsdienste über das Internet, intelligente Verkehrssysteme, Online-Angebote der Regierungen, digitale Inhaltsangebote für globale Netzwerke. Hinzu kommt eine Querschnittspolitik, die Risikokapital für kleine und mittlere High-Tech-Unternehmen mobilisieren soll. Selbst der ultraliberale EU-Kommissar Martin Bangemann förderte damals noch die Entwicklung von Umweltinformationssystemen und den Einsatz von Computern im Umweltschutz. In den neuen Initiativen der Kommission ist davon keine Rede mehr.
Alte Vorbilder
Das Aktionsprogramm der Kommission schließt fast nahtlos an die Politik der Liberalisierung im Telekom- und IT-Sektor an, die Bangemann seit Mitte der 90er Jahre erfolgreich vorantrieb. Zentrales Ziel ist eine markt- und technikgetriebene, angebotsorientierte „Informationsgesellschaft“, die durch mehr Wettbewerb und Deregulierung auf den Weg gebracht wird. Nur dann, wenn der Markt etwa in wenig entwickelten Regionen kein ausreichendes Angebot zustande bringt, sollen die Mitgliedstaaten und die Strukturfonds der Europäischen Union für eine Mindestversorgung mit neuen Diensten aufkommen. Heute geht es um die Liberalisierung der örtlichen Telekommunikationsnetze, die Entfesselung des Wettbewerbs im E-Commerce, die Aufteilung neuer Frequenzbereiche für die wettbewerbliche Entwicklung des Internetzugangs und schneller Multimediadienste über den Mobilfunk. Staatliche Initiativen sollen ansonsten „aktivieren“, um die Menschen den neuen Marktprozessen und der Technik schnellstmöglich anzupassen. So soll eine „kritische Masse“ neuer Geschäftsfelder entstehen, die einen selbsttragenden Aufschwung ermöglicht.
Die vorgeschlagenen 11 Aktionsbereiche sind weitgehend deckungsgleich mit der damaligen Bangemann-Initiative zu „Transeuropäischen Projekten für die Informationsgesellschaft“ von 1994. (2) Unter Bangemann verabschiedete man schon einmal einen „Aktionsplan für Europas Weg in die Informationsgesellschaft“. Auch heute läuft alles nach dem gleichen Schema: der Lissaboner EU-Gipfel im März 2000 griff die wesentlichen Vorschläge der e-Europe-Initiative positiv auf. Die Presse war von Lissabon begeistert und präsentierte den Gipfel unter Schlagzeilen wie “ Die EU setzt sich ehrgeizige Ziele“. (Handelsblatt, 24.3.2000) Beim EU-Gipfel von Feira begrüßten die Staatschefs mit Nachdruck den neuen e-Europe-Aktionsplan und empfahlen die Umsetzung von 64 Einzelmaßnahmen. Damit war das Lissabon-Follow-up abgehakt. Im Mittelpunkt der Tagung standen ansonsten andere Themen.
Kurzes Gedächtnis
Niemand fällt offenbar die Frage ein, warum in den vergangenen sechs Jahren die Fortschritte beim Thema „Informationsgesellschaft“ in der EU eher bescheiden ausfielen. Denn auch bei der Bangemann-Initiative wurde damals ein euphorischer Hype um den Cyberspace als Jobmaschine aufgebaut. Die Resultate blieben bisher deutlich unter den geweckten Erwartungen. Innovative Entwicklungen hatte die Kommission hingegen weitgehend verschlafen: z. B. den grandiosen Markterfolg der „freien Software“, von kostenlosen Betriebssystemen wie Linux oder dem Serverbetriebssystem Apache. Diese Entwicklung passte nicht in ihr Denkraster, wonach Software am besten unter strengster Geheimhaltung des Programmcodes und dem höchstmöglichen Schutz des „geistigen Eigentums“ entwickelt werden soll. Dabei ging die Linux-Entwicklung maßgeblich von Europa aus: der Finne Linus Torvalds hat die neue Software mit einem locker koordinierten Team über die Welt verstreuter Computerfreaks entwickelt und stabil gemacht.
Derselbe Torvalds hat inzwischen für die amerikanische Firma Transmeta ein Betriebssystem für Computerprozessoren der neuen Generation entwickelt (Crusoe-Prozessoren). Durch Torvalds ausgetüfteltes Prozessor-Betriebssystem kommen die neuen Chips mit etwa einem Watt elektrischer Energie aus – gegenüber 14 Watt bei den handelsüblichen Pentium-Chips der Firma Intel. Auf Kühlaggregate und energiefressende Ventilatoren kann der neue Prozessor verzichten, und außerdem ist er voll kompatibel zum handelsüblichen Intel-Prozessorstandard x86 (3).
Mit dem Eureka-Projekt „Care Vision 2000“ war die EU einmal führend in der Forschung und Entwicklung elektronischer Bauteile mit längerer Lebensdauer und verbesserter Recyclingfähigkeit. Vergleichbares ist nicht nachgekommen – und die neuere Entwicklung hat die EU überwiegend aus Ignoranz verpasst. Sicher gab es einen Wachstumsschub bei Handys und Mobilfunk, und die Liberalisierung der Telekommunikation machte Telefonieren und Internet billiger. Doch daraus entstand eben noch keine eigene Vision, geschweige denn ein demokratisch diskutiertes und gesellschaftlich verankertes Strukturmuster für Europas Übergang in die „Wissensgesellschaft“.
Ritualisierte Botschaften
Paradigmatisch für die Haltung der europäischen Regierungschefs zur Internetökonomie war das öffentlich zelebrierte Händeschütteln mit Bill Gates – von konservativ bis grün. Die Botschaft lautete, dass Europa von den „Erfolgsmodellen“ der USA lernen möchte – zumindest galt dies bis zum Monopolprozess gegen Microsoft. Was will man auch von Leuten erwarten, die wie Bundeskanzler Gerhard Schröder zwar gerne den publikumswirksamen Modernisierer geben, aber auf die Tagesthemen-Frage: „Was ist der Unterschied zwischen ROM und RAM?“ mit recht denkwürdigen Statements antworten: man werde die Sprachen noch lernen und arbeite ganz entschieden daran.
Kommission und Rat erwiesen sich seit dem Start der Bangemann-Initiative als relativ beratungsresistent. Obwohl sie selbst eine „Gruppe hochrangiger Experten zu den sozialen und gesellschaftlichen Aspekten der Informationsgesellschaft“ und das Information Society Forum als Beratungsgremium der gesellschaftlich relevanten Gruppen einberufen hatte, ignoriert die Kommission seit Jahren die fundierte Expertise und Konzepte dieser beiden Gremien.
Alternative Strategien
Dabei hat der Bericht der Gruppe hochrangiger Experten deutlich herausgearbeitet, dass Informationstechnik und Strukturwandel nur dann von der Bevölkerung akzeptiert werden, wenn Entwicklung und Anwendungen sozialstaatlich eingebettet werden. (4) Technik und Strukturen müssen an die Menschen und ihre Bedürfnisse angepasst werden, lautet ihre Schlussfolgerung – und nicht umgekehrt die Menschen an Technik und Märkte. In einem Klima allgemeiner sozialer Unsicherheit, das durch einen rein marktgetriebenen und angebotsorientierten Strukturwandel hervorgerufen werde, könne die „Informationsgesellschaft“ kaum breite Akzeptanz finden.
Nötig ist demnach eine nachfrageorientierte Strategie auf dem Weg zur „Wissensgesellschaft“ – denn „ohne Kaufkraft rechnet sich die Informationsgesellschaft nicht.“ (Jeremy Rifkin) Damit sind wir beim Ziel einer demokratischen, ökologischen und sozialen Informationsgesellschaft, die vom Vorrang öffentlicher Interessen bestimmt wird. Ein wichtiges Instrument auf diesem Weg sind öffentlich-rechtlich oder nicht-kommerziell strukturierte Informationsdienste und -netze, mit einer gut ausgebauten Infrastruktur öffentlich zugänglicher Multimediakioske u.ä. Die breite Vermittlung von Medienkompetenz zur Nutzung dieser Angebote und der breite Zugang zu Informationen von öffentlichem Interesse erfordert dauerhafte Investitionen in Milliardenhöhe – im Bildungssystem und in der öffentlichen Infrastruktur. Herbert Kubicek hat das benötigte Investitionsvolumen in Bildung und Infrastruktur für die Bundesrepublik auf rund 30 Mrd. DM veranschlagt. (5) Sollen die Menschen in Europa die neuen Angebote kompetent nutzen und demokratisch mitgestalten können, so sind motivations- und kaufkraftsteigernde höhere Löhne und Umverteilungspolitiken gefragt, um diesen Prozess erfolgreich zu organisieren.
In ihrem Aktionsplan erkennt die Kommission erstmals Instrumente zur Stärkung öffentlicher Interessen in Teilbereichen an. Sie erinnert erneut an ihr Ziel, eine Spaltung der Gesellschaft in „information rich“ und „information poor“ zu verhindern. Der Zugang zum Internet soll behindertgerecht gestaltet werden. Den Technikdesignern soll mit einen europäischen Curriculum für einen „Design-für-alle Standard“ auf die Sprünge geholfen werden. Telezentren und Internetzugangsangebote in öffentlichen Einrichtungen sollen notfalls durch die Strukturfonds gefördert werden. Doch die Umsetzung und Finanzierung bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten und ist nicht verbindlich geregelt. Vorgaben für einen Universaldienst, der die Internetnutzung einschließt und die Teilhabe wirtschaftlich schwacher und sozial ausgegrenzter Gruppen sicherstellt, stehen nicht auf ihrem Programm. So hat die Kommission nur wohlfeile Appelle an die Regierungen im Angebot, die soziale Dimension der „Informationsgesellschaft“ mitzudenken.
Ehrgeizige Ziele?
Nicht alle Vorschläge der e-Europe-Initiative sind schlecht. Ein schnelles Internet für Wissenschaft und Forschung, Anpassung von Informationstechnik und Software an die Bedürfnisse von Behinderten und sonstigen vom sozialen Ausschluss bedrohte Gruppen – das alles sind positive Vorhaben. Auch ein verstärkter Aufbau von Gesundheitsinformationsdiensten und bessere und leistungsfähigere Internetangebote von Regierungen und öffentlichen Verwaltungen sind sinnvoll, sofern dies nicht zu Lasten der persönlichen Beratung und Betreuung im Gesundheitswesen und in einer bürgernahen Verwaltung geht.
Der Sondergipfel von Lissabon hat einige Ziele gesetzt, die für sich genommen ebenfalls unterstützenswert sind: z.B. die Ausstattung aller Schulen in der EU mit Internetanschluss und Multimedia bis zum Jahr 2001 und die Ausbildung aller Lehrkräfte in den dafür erforderlichen Fertigkeiten bis 2002. Schulen sollen ein neues Basiswissen vermitteln (IT- und Multimediakompetenz, Fremdsprachen, soziale Kompetenz) und durch ein EU-Diplom die erworbenen Fertigkeiten bescheinigen. Insgesamt will die EU die pro-Kopf-Investitionen in „Humankapital“ deutlich steigern – also in die Ausbildung und Qualifizierung der Menschen.
Von der konkreten Ausgestaltung dieser Initiativen wird natürlich abhängen, ob damit eine positive Entwicklung eingeleitet werden kann. Derzeit konzentriert sich die EU sehr stark auf eine Art „Planerfüllungsideologie“ – wie viele Schulen haben wirklich Computer und Internetanschluss – statt ebenso an die Entwicklung qualitativer, medienpädagogischer Konzepte und geeigneter Bildungssoftware, Datenbanken etc. heranzugehen. Der selbsterzeugte Stress der kurzen Fristen – weil man das „Einholmanöver“ gegenüber den USA so medienwirksam wie möglich darstellen wollte – kann sich also noch als Bumerang erweisen. Weiterführende qualitative und inhaltliche Ansprüche könnten unter die Räder kommen. Allerdings kann niemand etwas dagegen haben, dass Mittel für Infrastruktur und Ausbildung zur Verfügung gestellt werden.
Die Nagelprobe für die Mitgliedstaaten kommt mit den nächsten Haushaltsentscheidungen. Ohne eine deutliche Erhöhung der Etats für Forschung, Bildung sowie Aus- und Weiterbildung, ohne gesetzlich verbriefte Ansprüche für Weiterbildung und lebensbegleitendes Lernen wird die derzeitige Initiative wieder nur ein Strohfeuer entfachen. Genauso entscheidend wird die Beantwortung der Frage sein, wie die Unternehmen zur Finanzierung der Kosten für die Ausbildung und kontinuierliche Weiterbildung ihrer MitarbeiterInnen bewegt werden können. Gutgemeinte Appelle an das Eigeninteresse der Firmen wie in der Vergangenheit werden nicht viel bewirken. (6)
Diese wenigen positiven Initiativen verändern die allgemeine Orientierung auf eine angebots-, markt- und technikgetriebene „Informationsgesellschaft“ allerdings nicht grundlegend. Der e-Europe-Aktionsplan der Kommission braucht deshalb einen neuen strategischen Rahmen. Der Bericht der Gruppe hochrangiger Experten gibt dafür die nötigen Hinweise und Impulse. Investitionen in Bildung und Ausbildung, Stärkung der Beschäftigung und des sozialen Zusammenhalts, ökologische Verträglichkeit der Informationsgesellschaft und die Stärkung öffentlicher Interessen im Internet sind die Querschnittsbereiche, um die herum die e-Europe-Initiative neu strukturiert werden muss.
Qualifizierungsoffensive
Die EU braucht kurz- und mittelfristige Massnahmen, um die europaweit 800 000 freien Stellen im IT-Sektor zu besetzen. Der Fachkräftemangel im IT-Bereich wurde durch den weitgehenden Rückzug der Arbeitgeber aus der betrieblichen Aus- und Weiterbildung in diesem Bereich verursacht. Hinzu kamen die Folgen der Sparpolitik im Bildungswesen, die auch die Informatikausbildung und verwandte Bereiche trafen. Hatte nicht ein gewisser Ministerpräsident Gerhard Schröder in Niedersachsen die Informatikausbildung an der Universität Hildesheim Mitte der 90er Jahre fast komplett ausradiert, um den Landeshaushalt zu entlasten? An anderen Unis sah die Lage damals kaum anders aus. Angehenden StudentInnen riet man von einer Informatikausbildung ab, weil die Zukunftsaussichten schlecht seien. Mit dem Aufschwung des Internet gibt es nun plötzlich einen großen Fachkräftemangel. Eine vorausschauende Netzpolitik, die die Nachfrage nach neuen Diensten und die dafür benötigten qualifizierten Fachkräfte gleichermaßen entwickelt, gab es nicht. Die gleiche Situation bestand Mitte der 90er Jahre für Ingenieure, Elektrotechniker und Maschinenbauer. Heute sucht die Industrie händeringend nach geschultem Personal.
Dies zeigt erneut, dass der „Arbeitsmarkt“ etwas ganz anderes ist als z.B. der Markt für Designerjeans, CD-Player oder Computerzubehör. Menschen zu qualifizieren braucht eben seine Zeit, und diese Menschen einer angemessenen Beschäftigung zuzuführen erfordert eine mittel- bis langfristige Strategie und Planung. Statt einer mittelfristig orientierten „Industriepolitik“ gab es in Deutschland und in der EU allerdings nur das naive Vertrauen, dass Marktkräfte und Angebotspolitik schon alles richten würden. Diese Haltung rächt sich jetzt. Junge, gut ausgebildete IT-Fachkräfte aus Indien, Polen und Russland anzuwerben verspricht zwar eine „billige Lösung“ für die Industrie. Sie spart erneut die Ausbildungskosten und setzt die Menschen befristet nur solange ein, wie es die Überwindung der akuten Notlage erfordert. Entwicklungspolitisch ist dies das falsche Signal, weil der „Brain Drain“ aus den Schwellenländern deren Potential für eine tragfähige wirtschaftliche Entwicklung schwächt. Zudem begeben wir uns damit auf den Weg total flexibilisierter globaler Arbeitsmärkte, in denen die Interessen und Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen, ihr Wunsch nach einer stabilen und befriedigenden Beschäftigung gar nichts mehr zählt – egal ob sie nun einen indischen, russischen oder EU-Pass haben.
Auf der einen Seite versuchte NRW-CDU-Chef Jürgen Rüttgers, der als „Zukunftsminister“ unter Helmut Kohl herzlich wenig für den Ausbau von Qualifizierung getan hatte, mit der Parole „Kinder statt Inder“ rassistisch gefärbte Stimmungen zu mobilisieren. Auf der anderen Seite sehen viele Progressive die Greencard-Debatte als Hebel, um mit Unterstützung der Unternehmerverbände endlich ein Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Der eigentliche Skandal – dass die Industrie weiter nicht daran denkt, Ausbildung und Qualifizierung deutlich auszubauen und zu finanzieren – wird durch die mit viel „Gutmenschentum“ angereicherte Debatte um die „Computer-Inder“ (BILD) erfolgreich aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt.
Natürlich braucht Europa eine gezielte Einwanderungspolitik – doch diese muss für alle EinwandererInnengruppen konzipiert werden, die Integration der Menschen, ihre Qualifikation und Ausbildung fördern und ihnen garantierte Rechte als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft verbriefen. Die Politik des „nützlichen Ausländers“ – nützlich für die Wirtschaft, weil kostensparend und weil man sie ja leicht wieder wegschicken kann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden – ist zutiefst inhuman.
Zur Überwindung des aktuellen Fachkräftemangels und für eine mittelfristige Strategie zum Aufbau einer sozial eingebetteten, ökologischen und demokratischen Informationsgesellschaft ist eine andere Politik gefragt. Die EU und die Mitgliedstaaten müssen eine breite Qualifzierungsoffensive ins Leben rufen, die Universitäten, Weiterbildungsinstitutionen und die aktive Arbeitsmarktpolitik auf die Vermittlung von Qualifikationen für die neuen IT-Berufe orientiert und das lebensbegleitende Lernen fördert. Die Unternehmen müssen dort zur Mitfinanzierung dieser Qualifzierungsoffensive herangezogen werden, wo ihr Aus- und Weiterbildungsangebot nicht den tatsächlichen Erfordernissen entspricht (Umlagefinanzierung).
Die Forderung der portugiesischen Ratspräsidentschaft ist richtig, die schulische Ausbildung stärker auf die Anforderungen der Wissensgesellschaft auszurichten und dafür dauerhaft die nötigen finanziellen Mittel zu mobilisieren. Doch die aktuell nötige Qualifizierungsoffensive muss auch auf mittlere und höhere Altersgruppen ausgedehnt werden, um den Fachkräftemangel zügig beheben zu können und bisher Erwerbslosen eine dauerhafte, qualifizierte Beschäftigung zu ermöglichen. Die bisherige Einstellungspraxis der Firmen ist skandalös, die vielen BewerberInnen einfach deshalb keine Chance gibt, weil sie älter als 35 Jahre sind.
Der Aktionsplan schlägt immerhin vor, bis Ende 2002 die Zahl der Ausbildungsplätze und Kursangebote im IT-Sektor um 50 % zu steigern und stellt in Aussicht, dafür Mittel des Europäischen Sozialfonds bereitzustellen. Es wäre allerdings fatal, wenn deshalb beim Sozialfonds an anderen Stellen Ressourcen gestrichen würden. Zum anderen bleibt die Frage der inhaltlichen Qualität und der Zukunftsfähigkeit der Aus- und Weiterbildungsangebote unbeantwortet. Ebnso bleibt die Finanzierung angesichts der Sparpolitik der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten und der Kostensenkungspolitik der Unternehmen eine offene Frage.
Bildung, Aus- und Weiterbildung
So richtig die Kommissions-Initiative für den Internet- und Multimediazugang von Schulen bis zum Jahr 2001 auch sein mag – sie allein ergibt noch kein hinreichendes Konzept für eine adäquate Bildungspolitik für die „Informationsgesellschaft“. Diese Initiative kann nur dann positive Früchte tragen, wenn sie mit angemessenen Bildungskonzepten und -inhalten unterfüttert wird. Lehrmethoden wie das Computer Supported Cooperative Learning (CSCL) müssen in den Mittelpunkt gerückt werden, die den Einsatz von Computern und Multimediatechniken in normalen Lernumgebungen im sozialen Kontext einbetten. (7) Nötig ist weiterhin der Aufbau öffentlicher Bildungsnetzwerke, die qualitativ hochwertige Bildungsinhalte bereitstellen, über Schulen, Bibliotheken, Museen, Universitäten und Forschungseinrichtungen miteinander verbunden und auch für private NutzerInnen kostenlos zugänglich sind. Hinzu kommt, dass die Anforderungen an die Didaktik bei Multimedia sehr viel höher sind, als bei gewöhnlichen Lehrbüchern. Bilder, Animationen, Grafiken, Video- und Tonsequenzen müssen so ausgewählt und aufbereitet werden, dass sie dazu beitragen, Wissen überzeugend darzustellen, zu verstehen, langfristig behalten und anwenden zu können. Um Multimediatechnik für optimales Lernen wirksam zu machen, müssen Qualitätsstandards und Evaluierungsmethoden erst entwickelt werden. Die öffentlichen Bildungssysteme brauchen deshalb spezifische Entwicklungsprogramme, die die jeweiligen FachexpertInnen, PädagogInnen, Multimedia-DesignerInnen und Software-EntwicklerInnen zusammenbringen.
Es stellt sich auch die Frage, welchen Inhalt die von der Kommission gewünschte „digitale Alphabetisierung“ annehmen soll: geht es um reines AnwenderInnentraining für Standardprodukte wie Microsoft Windows, Textverarbeitungsprogramme u. ä. – oder geht es auch um das Verstehen von Strukturen, um gewisse Programmierkenntnisse zur Anpassung von Soft- und Hardware an unterschiedliche Situationen und Anforderungen, um Medienkompetenz und -erziehung? Die zweite Alternative würde erheblich dazu beitragen, eine breite Schicht von Pro-Usern heranzubilden, die nicht nur AnwenderInnen, sondern in gewissem Umfang auch ProduzentInnen von Information und Software sein könnten und damit ein stabiles Umfeld für die Weiterentwicklung und kreative Gestaltung der „Informationsgesellschaft“ schaffen können.
Richtigerweise hat die Kommissionsinitiative auch die Qualifizierung von LehrerInnen und AusbilderInnen im Blick – obwohl der Zeitrahmen bis 2002 für eine qualifizierte „Erziehung der Erzieher“ recht knapp scheint. Befürchtungen, dass es nur um Standardkenntnisse fürs Internetsurfen gehen wird, scheinen nicht unbegründet. Zumindest in Deutschland stößt das Projekt auf eine schwere Hürde: fast zwei Drittel des bundesdeutschen Lehrkörpers sind älter als 45 Jahre und gelten als relativ „computerresistent“. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung haben 80 % der LehrerInnen noch nie im Internet gesurft. Programme und Finanzmittel für eine entsprechende Fortbildung der LehrerInnen existieren kaum. Zudem scheiden zwischen 2005 und 2010 rund zwei Drittel der derzeitigen Informatik-ProfessorInnen in Deutschland aus der universitären Lehre aus. Insofern existiert ein riesiger Bedarf an jungen NachwuchslehrerInnen und universitären Nachwuchskräften, falls die Kampagne der Kommission zur „digitalen Alphabetisierung“ des Lehrkörpers keine Eintagsfliege bleiben soll. Eine vorausschauende Politik für eine tragfähige „Informationsgesellschaft“ verlangt die Instandsetzung des Bildungssystems, von Forschung und Lehre auf der Höhe der künftigen Anforderungen.
Jobmaschine e-Commerce?
Das Internet und der elektronische Handel (e-Commerce) sollen Millionen neuer Arbeitsplätze bringen – so die hoffnungsfrohe Botschaft von Kommission und Regierungschefs. Diese These ist genauso altbekannt wie unhaltbar. Schon beim Start der Bangemann-Initiative zur Informationsgesellschaft Mitte der 90er Jahre war von 10 Millionen neuen Arbeitplätzen die Rede. Bangemann musste später eingestehen, seine Zahlen seien keine realistische Größe, sondern eine „Setzung“. Die Unternehmensberatung Roland Berger versprach 1995 in einer Studie fünf Millionen neuer Jobs – und kam nur ein Jahr später zu dem Ergebnis, dass durch neue Multimedia-Technologien kaum mehr als 200 000 Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Andere Studien kamen zu eher ernüchternden Resultaten: die Jobzuwächse in den Bereichen Multimedia, Software, Mobilkommunikation etc. reichten nicht aus, um die Arbeitsplatzverluste z. B. in der Telekommunikation, Elektronik und Elektrotechnik wettzumachen. Die Jobbilanz der „Informationsgesellschaft“ ist demzufolge eher negativ. Herbert Kubicek hat auf Grundlage offizieller Zahlen des Zentralverbands Elektrotechnik und Elektroindustrie aufgezeigt, dass von 1988 bis 1997 in Deutschland quer durch die betroffenen IT-Branchen per Saldo rund 160 000 Arbeitsplätze verloren gingen. (8)
Auch bei e-Commerce sind vergleichbare Strukturen zu beobachten. Den Löwenanteil mit rund 80 % des elektronischen Handels via Internet bestreitet der Handel zwischen Firmen (business to business). Hier stehen Kostensenkungsmotive und das Anheizen des Preiswettbewerbs im Vordergrund. Große Automobilhersteller wie Daimler-Chrysler, General Motors oder Ford wollen ihre gesamten Einkäufe bei Zulieferern über das Netz abwickeln. Wer nicht in der Lage ist, bei gleicher oder höherer Qualität zu immer günstigeren Preisen im Vergleich zu anderen globalen Wettbewerbern Zulieferprodukte und Dienstleistungen anzubieten, fliegt von der Lieferantenliste. Besonders inspiriert zeigt sich die Branche von den Möglichkeiten des Internet-Auktionshandels, der ja nicht nur wie bei e-Bay für Antiquitäten und Second-Hand-Ware, sondern z.B. auch für Neureifen, Strom oder Wasserpumpen organisiert werden kann. Im Netz lässt sich somit die Funktion des neoklassischen walrasianischen Auktionators abbilden, der Angebote solange ausruft, bis sie zu „markträumenden Preisen“ die Seite wechseln. Den riesigen Konzernkonglomeraten steht natürlich eine geballte oligopolistische Nachfragemacht zur Verfügung, die die Preise der Lieferanten deflationär nach unten drückt. „Intelligente Agenten“, „shopping robots“ und ähnliche Softwareprodukte, die in kürzester Zeit Hunderttausende Preise vergleichen und das günstigste Angebot herausfiltern können, erleichtern dieses Geschäft ungemein.
Dies alles beschreibt natürlich nur eine allgemeine Tendenz. Es gibt sicher auch Gegentendenzen: z.B. dass bestimmte Zulieferprodukte und -dienstleistungen besondere Spezifikationen und ein hochverlässliches Liefersystem garantieren müssen, so dass nur ein begrenzte Zahl von Unternehmen dafür infrage kommt. Dennoch werden die Kostensenkungsstrategien und ein kannibalistischer Preiswettbewerb eher einen deutlichen Druck zum Abbau von Arbeitsplätzen und zum „Auskämmen“ von zu teuer erachteten Anbietern ausüben. Der elektronische Handel von Business-to-Business wird auf Grundlage der derzeitigen Strukturen damit eher zum Jobkiller. Die zunehmende Verschmelzung der „New Economy“ mit der „Old Economy“ – Autoherstellern, Chemieriesen, Pharmaproduzenten usw. – via Internet und E-Commerce blamiert die Träume der alternativen Computergemeinde bis auf die Knochen. Nicht ein macht- und herrschaftsfreier Raum zur persönlichen Entfaltung der Einzelnen, eine „elektronische Agora“ der direkten Demokratie kommt im Internet zum Tragen, sondern die Macht- und Herrschaftsstrukturen der realen Welt drücken auch der virtuellen ihren Stempel auf.
Die Perspektiven des auf die privaten Verbraucher zielenden Online-Handels (business to consumer) stimmen im Hinblick auf die Arbeitsplätze auch nicht gerade hoffnungsfroh. Bei Gütern oder Dienstleistungen, die schon digital vorliegen oder in digitaler Form über das Netz vertrieben werden können, wird ein Verdrängungswettbewerb in Gang gesetzt. Dies betrifft z.B. Computersoftware, Fernlernangebote, Flugtickets, Börsendienste, Online-Zeitungen, Finanzdienstleistungen und Versicherungsprodukte, Fotos und Grafiken, Musik (MP3), Videos, Bücher und ähnliches. Klassische Reisebüros, CD- und Video-Läden, ein Großteil des „unproduktiven“ Zwischenhandels werden aus dem Geschäft gedrängt, ebenso wie Banken ihr Filialnetz immer weiter ausdünnen.
Bei „anfassbaren“ Gütern – Autos, Mode, Lebensmittel etc. – steht der E-Commerce weitgehend auf einer Stufe mit dem traditionellen Versandhandel. Der Online-Handel hat hier noch keine großen Marktanteile erobern können – in den USA werden z.B. erst 2,7 % der Neuwagen über das Web verkauft. Dennoch könnten die Gewinnmargen des traditionellen Groß-, Einzel- und Zwischenhandels auch durch ein langsames Wachstum des E-Commerce empfindlich getroffen werden. Goldmann Sachs rechnet damit, dass in den nächsten zehn Jahren die Gewinnmarge der traditionellen Anbieter jährlich nur um 3 % statt wie bisher um 5 % wachsen wird. Auch dies erhöht den Druck zur Umstruktierung des Einzel- und Zwischenhandels zu lasten der Arbeitsplätze. „Der Einzelhandel muss sich verändern – oder ins Gras beißen“ – so die Schlussfolgerung der Zeitschrift Economist. (9)
Ob durch neue Vertriebswege und Direktmarketing via Internet, neue Logistikkonzepte, Service- und Contentprovider, Webdesign und Webmastering etc. mit e-Commerce mehr Arbeitsplätze entstehen, als in den traditionellen Branchen und Vertriebsstrukturen vernichtet werden, scheint fraglich. Die neuen Strukturen zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie weitgehend gewerkschaftsfrei und ohne Tarifbindungen agieren können (z.B. Call Center, Direktmarketing, Internetfirmen) oder vielfach auf neuer Selbständigkeit beruhen (Webdesign, Informationbroker etc.). Die Europäische Kommission will das „Arbeiten in der Wissengesellschaft“ erklärtermaßen durch eine noch stärkere Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und durch den Ausbau der Telearbeit gestalten. Ihre Parole, e-Commerce bringe zugleich mehr und bessere Arbeitsplätze, erscheint vor diesem Hintergrund als sehr gewagt und unrealistisch. Insgesamt erweist sich die „Informationsgesellschaft“ nicht als die Jobmaschine, als die sie lautstark beworben wird.
Angesichts der großen Potenziale zur Produktivitätssteigerung müssen die drohenden Arbeitsplatzverluste im wesentlichen durch eine Strategie der Entschleunigung aus ökologischen Gründen sowie der Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung konterkariert werden. Die EU braucht vor allem Initiativen zur sozialen Regulierung neuer Arbeitsformen, die im Internet- und IT-Bereich entstehen (Einbeziehung von Projektarbeit, Telearbeit, neuer Selbständigkeit in die Sozialversicherung; Neufassung des Betriebsbegriffs und garantierte Mitbestimmungsrechte, „online rights for online workers“ etc). Dies betrifft auch eine Regulierung der Arbeitszeiten in den neuen Branchen. Nach einer Studie des Deutschen Multimedia-Verbandes von 1998 arbeitet ein Beschäftigter in den neuen Neuen Medien durchschnittlich 46 Stunden die Woche, ein Webmaster zwischen 40 und 50 Stunden, die Geschäftsführer rund 60 Stunden und selbst PraktikantInnen noch 42 Wochenstunden. Die Gefahr eines professionellen „Burn Out“ ist in diesen Branchen sehr hoch und muss durch eine Angleichung der Arbeitszeiten zumindest an das Durchschnittsniveau (38 Std.) minimiert werden. Eine gezielte Strategie der Arbeitszeitverkürzung (30 Stunden Woche) könnte auch hier erheblich dazu beitragen, humanere Arbeitsbedingungen und mehr Stellen zu schaffen. (10)
Um neue soziale Spaltungen zu vermeiden, muss die EU ebenfalls neue Initiativen lancieren, um den sozial Ausgeschlossenen einen gleichen Zugang zu Qualifikation, Weiterbildung und Informationsnetzwerken zu ermöglichen. Es wird nicht ausreichen, allein durch einen forcierten Wettbewerb jetzt auch in den lokalen Telekommunikationsmärkten die Kosten für den Internetzugang zu verbilligen. Die günstigsten und qualitativ hochwertigsten Zugangsangebote wird es auch weiterhin überwiegend in den großen Ballungsgebieten geben, weil die Service Provider sich aus Ertragsgründen hierauf konzentrieren werden. Nötig ist deshalb eine dynamische Regulierung des Telekommunikationssektors, indem alle AnbieterInnen zu einem Universaldienst auf der Höhe der technologischen Entwicklung (z.B. Bereitstellung des Internetzugangs über ISDN auch in der Fläche, sozial gestaffelte Preise für besonders benachteiligte Gruppen etc.) verpflichtet werden.
Marktpolitik für Anbieterinteressen
Ordnungspolitisch soll sich der e-Commerce in Europa in einem liberalisierten Umfeld entwickeln können. Auch der öffentliche Dienst soll spiegelbildlich zur Privatwirtschaft öffentliche Ausschreibungen ins Internet verlagern. Wettbewerbsschranken wie das deutsche Rabattgesetz werden fallen. Auf verbindliche gesetzliche Vorgaben zum Verbraucher- und Datenschutz im europäischen e-Commerce (Wiederrufsrecht bei Vertragsabschlüssen, sichere Bezahlung, Reklamationsrecht, Verhinderung des „gläsernen Kunden“ und der nichtautorisierten Weitergabe persönlicher Daten etc.) will die Kommission eher verzichten. Bei intelligenten Chipkarten im e-Commerce vertraut man darauf, dass Industrie und Standardisierungorganisationen schon die richtigen Sicherstandards selbst entwickeln und sich über ihre Anwendung einigen. Ansonsten soll der „Verbraucherschutz“ durch Selbstregulierungen und alternative Streitschlichtungsverfahren der betroffenen Branchen geregelt werden. Auch im Datenschutzabkommen zwischen der EU und der USA setzt man auf Selbstregulierung. Wie EU-BürgerInnen ihre von US-Unternehmen gesammelten Daten z.B. einsehen, korrigieren oder löschen, wie sie rechtliche Ansprüche aus der EU-Datenschutzrichtlinie gegebenfalls durchsetzen können – dies alles bleibt offen. Wie die Kommission mit ihrer einseitig kapitalfreundlichen Politik ihr erklärtes Ziel erreichen will, das Vertrauen der VerbraucherInnen in den e-Commerce zu stärken, mag ihr Geheimnis bleiben.
In der steuerlichen Behandlung des Online-Handels will die Kommission sich offenbar vom OECD-Standard absetzen. In den USA wird auf online gehandelte Produkte und Dienstleistungen bislang keine Verbrauchssteuer erhoben. Die OECD schlägt vor, den Online-Handel wie Dienstleistungen zu besteuern, wobei die Mehrwertsteuer in demjenigen Land bezahlt werden muss, in dem die Güter und Dienstleistungen gekauft werden (Bestimmungslandprinzip). Die Europäische Kommission will das Bestimmungslandprinzip nur für Business to Business E-Commerce anwenden. Für elektronischen Handel mit Privatkunden soll das Ursprungslandprinzip gelten, wonach die Mehrwertsteuer im Herkunftsland des E-Commerce-Anbieters entrichtet wird. Besonders umstritten ist ihr Vorschlag einer Einzelregistrierung von E-Commerce-Anbietern in einem einzigen EU-Mitgliedstaat. US-Anbieter würden sich dann z.B. vor allem auf Luxembourg, Irland, Großbritannien oder die Niederlande als „Firmensitz“ konzentrieren, weil sie niedrige Steuersätze haben. An den übrigen Mitgliedstaaten würden die Steuereinnahmen aus dem elektronischen Handel vorbeirauschen. Damit setzt die Kommission selbst Anreize für einen Steuerwettbewerb nach unten, den sie ansonsten gern als „unlauter“ geißelt.
Zukunftsfähige Informationsgesellschaft
Der globale Handel über das Internet zieht ein wachsendes Transportaufkommen nach sich, weil Produkte perspektivisch in zunehmenden Maß aus anderen Weltregionen geordert werden. Das Wachstum des Lufttransportaufkommens und der CO2-Emissionen wird dadurch zusätzlich angekurbelt. Bei der Herstellung von IT-Hardware wird nach wie vor mit giftigen Stoffen gearbeitet. Flammschutzmittel auf Hauptplatinen und PC-Karten sind häufig mit bromierten Dioxinen und Furanen verunreinigt. Der lebenszyklusbezogene Materialverbrauch für einen gewöhnlichen PC beträgt zwischen 15 und 19 Tonnen – gegenüber 25 Tonnen bei einem Auto. Pro funktionsfähigem und vier Jahre im Einsatz befindlichen PC werden rund 1,5 Geräte produziert, d.h. bis zu einem Drittel bleibt wegen der schnellen Überalterung der Technik unverkäuflich. Damit kommt der auf den PC bezogene Ressourcenverbrauch schon deutlich in die Nähe des Ressourcenverbrauchs für ein Auto. Das hohe Tempo der Produktinnovation lässt zudem die Elektronikschrottberge anwachsen. Auch die Softwareinnovation treibt diesen Zyklus an, weil z.B. Betriebssysteme wie Microsoft Windows von Generation zu Generation mehr Speicherplatz brauchen und damit auch die Entwicklung im Hardwarebereich zu immer schnelleren Computern und immer größeren Festplatten anheizen.
Entgegen ihrem Image als „saubere“ neue Wirtschaftsform trägt die gegenwärtig entstehende Internet-Ökonomie nicht zu einer ökologischen, nachhaltigen Wirtschaftsweise bei. Auch die Chipkarten-Initiative der Kommission schafft neue Umweltprobleme durch wachsende Elektronik- und Plastikabfallberge – von den Datenschutzproblemen ganz zu schweigen.
Deshalb sollte die e-Europe-Initiative einen Schwerpunkt auf die Entwicklung einer zukunftsfähigen Informationstechnik und zukunftsfähiger Anwendungskonzepte setzen: Reduzierung des Energieverbrauchs, Verringerung des Einsatzes giftiger Werkstoffe, reparaturfreundliche Hardwarekonzepte, längere Produktlebenszyklen, Verringerung von Elektrosmog in der Mobilkommunikation, europäisches Elektrosmogkataster, größere Softwareergonomie, Stärkung der Softwareökologie durch Verringerung des Speicherplatzbedarfs. Weil eine bloße Recyclingstrategie den hohen Materialdurchsatz im IT-Sektor nicht wesentlich verringern kann, muss die EU neue IT-Dienstleistungskonzepte nach dem Modell ökoeffizienter Dienste fördern (Leasing von Anwendernutzen, d.h. Gemeinschafts- oder Mehrfachnutzung von Geräten, Wartung und Pflege, Wiederverwendung und Reparatur, Wiederinstandsetzen bzw. Aufrüsten lokal am Arbeitsort etc.). Umweltinformationsnetzwerke und computerunterstützte Umweltschutzkonzepte gilt es auszubauen.
Die Kommissionsinitiative zu „intelligenten Verkehrssystemen“ ist völlig ungeeignet, das Wachstum des Verkehrsaufkommens zu verringern. Das implizite Ziel der Kommission lautet dann auch, das erwartete Verkehrswachstum – allein um 50 % im Luftverkehr in den kommenden 10 Jahren – durch Telematiksysteme im Autoverkehr oder durch private Fluglotsen- und Controllingdienste in der „European Open Sky“-Initiative besser zu managen.
Statt z. B. den öffentlichen Transport zu stärken und die Siedlungsstrukturen im Sinne der Verkehrsvermeidung umzubauen, werden z. B. AutofahrerInnen durch die Telematiksysteme dazu angehalten, bisher unterdurchschnittlich genutzte Routen zu wählen, um schneller voranzukommen. Dadurch wird zusätzlicher Verkehr in bisher weniger betroffene Regionen gelenkt. Parkplatzsuchende AutofahrerInnen werden in die Innenstädte gelockt, weil das Telematiksystem ihnen jeden kurzfristig frei werdenden Parkplatz meldet. Bis sie dann dort angekommen sind, kann der Parkplatz schon wieder weg sein und die Suchfahrt in der hoch belasteten City beginnt. Bei den Telematikprovidern fallen natürlich umfassende Bewegungsdaten an, die zur Erstellung von Bewegungsprofilen geeignet sind. Dies schafft neue Überwachungsgefahren und schwächt den Datenschutz. Insgesamt ist diese Strategie überhaupt nicht „intelligent“, denn sie lässt den Verkehr durch eine „optimiertere“ räumliche Nutzung bis zu dem Punkt anwachsen, bis der Kollaps unvermeidbar wird. (11)
Wesentlich sinnvoller ist es, den Einsatz von IuK-Technologien in der Telematik auf die Optimierung des öffentlichen Personen- und Güterverkehrsmanagements zu konzentrieren und in eine konsequente Strategie der Verkehrsvermeidung einzubetten. Im Privatkundenbereich der Bahn und des ÖPNV ginge dies z. B. durch einen Personal Travel Guide, der informiert, wo und wann der nächste Bus und die nächste Bahn vom gegenwärtigen Standort aus fährt und ob z.B. ein Fahrrad mitgenommen werden kann.
Stärkung der öffentlichen Interessen und einer nachhaltigen Dienstleistungsökonomie durch freie Software
Die Koordinierungs- und Beratungsstelle der Bundesregierung für Informationstechnik in der Bundesverwaltung (KBSt) hat Mitte März ein aufsehenerregendes Papier publiziert, das die Vorteile eines Umstiegs in der öffentlichen Verwaltung auf freie Software wie Linux mit überzeugenden Argumenten erläuterte. Ihre Analyse: die Verwaltungen könnten viel Geld sparen und erhielten wesentlich sicherere Computer-Betriebssysteme, wenn sie statt kommerzieller Software wie Microsoft Windows das freie Betriebssystem Linux einsetzen würden. Das Bundesinnenministerium hat die Initiative der hauseigenen Fachleute daraufhin umgehend gestoppt. Im Bundeswirtschaftsministerium denkt Sigmar Mosdorf derweil laut darüber nach, ob open source Software nicht zu einer „europäischen Alternative“ gegen Microsoft an den Start gebracht werden könnte.
Auch in der Generaldirektion „Informationsgesellschaft“ der Europäischen Kommission ist diese Debatte entbrannt. Ein umfangreiches internes Diskussionspapier (12) wirbt für eine aktive Strategie gegenüber der Entwicklung freier Software.
Die Vorteile der freien Software liegen auf der Hand:
Freie Software wie Linux ist kostengünstiger, weil im Gegensatz zu proprietären Softwarestandards keine Lizenzgebühren anfallen.
Der Programmcode liegt offen, wodurch Fehler schneller entdeckt und behoben als auch die Programme sehr viel flexibler an unterschiedliche Anforderungen angepasst und weiterentwickelt werden können. Bei proprietärer Software ist der Programmcode den NutzerInnen in der Regel nicht bekannt, was Firmen und Privatkunden dann teuren Service und lange Wartezeiten abverlangt, bis die Herstellerfirma die Programmfehler behoben bzw. ein Anpassungsmodul für die lokalen Gegebenheiten installiert hat.
Freie Software beruht auf einem partizipativen Eigentumskonzept (Copyleft) – der Programmentwickler muss bei allen Installationen zwar genannt, doch das Programm kann eigenständig weiterentwickelt werden. Dadurch entstehen perspektivisch immer vielseitigere, kostengünstige und stabile Anwendungen, der Innovationsprozess wird beschleunigt und durch die neuen Programme erhält die EndnutzerInnengemeinschaft als auch die ursprünglichen ProgrammiererInnen eine Gegenleistung in Form neuer oder effektiverer Software zurück, die sie nun selbst frei nutzen können.
Freie Software ist nicht generell „wettbewerbsfeindlich“, sondern stellt ihn auf eine neue Grundlage. Durch den frei zugänglichen Programmcode ergibt sich ein intensiver Innovationswettbewerb um neue Programmfeatures oder die optimale Anpassung an unterschiedliche EDV-Umgebungen. Diensteanbieter wie z.B. Distributoren bieten einen umfassenden Kunden- und Beratungsservice, verständliche Handbücher, Applikationssoftware etc., die den Endkunden hilft, die freie Software entsprechend ihren spezifischen Anforderungen einzusetzen.
Freie Software ist wegen der Kostenvorteile und der Offenheit des Quellcodes sehr für den Einsatz in Entwicklungsländern geeignet, die auf dieser Basis eigenständig qualifizierte ExpertInnen und ihren Bedürfnissen angepasste kostengünstige Software entwickeln können. Bill Gates und anderen Monopolisten wäre natürlich ein Teil ihres Geschäfts verdorben. Diese Argumente bewegten auch die französische Regierung dazu, in ihrer Internetstrategie auf freie Software zu setzen. Der öffentliche Bereich im weitesten Sinne könnte durch den Einsatz freier Software einen stabilen Markt schaffen. Öffentliche Förderprogramme könnten die Entwicklung funktionstüchtiger Anwendungsprogramme mit unkomplizierter Handhabung und geringem Speicherplatzbedarf für Betriebssysteme wie Linux anschieben helfen. Freie Software würde damit einen Beitrag leisten, die Informationsgesellschaft ökologischer und partizipatorischer zu gestalten.
Die Regierungschefs haben in Lissabon beschlossen, dem Patentschutz in der EU künftig mehr Gewicht zu verleihen. Softwarepatente würden allerdings die Verbreitung freier Software und ihre Kompitabilität mit anderen Programmen erheblich einschränken. Im Softwarebereich sollte die EU Copyleft-Modellen wie der General Public Licence eine starke Stellung einräumen, damit die Weiterentwicklung freier Software möglich bleibt.
Immerhin: der Aktionsplan der Kommission setzt nach der Serie von Virenattacken gegen Internetanbieter auf „Sicherheitsplattformen“, die auf open source Software basieren. Davon verspricht sie sich, dass Sicherheitsschwachstellen schneller erkannt und behoben werden können als bei kommerzieller Software, deren Programmcode „geheim“ ist. Lernprogramme für Schulen sollen mit einer Europäischen Open Source Initiative verknüpft und zu offenen „E-Learning“-Plattformen entwickelt werden. Der freien Software wird so aber immer noch eine Nischenposition zugewiesen, statt sie mit einem Konzept des Vorrangs öffentlicher Interessen in der „Informationsgesellschaft“ zu verbinden.
Die Arbeitsgruppe zur freien Software bei der Europäischen Kommission wirbt demgegenüber für eine umfassendere und offensive Strategie: „Wir denken an gesetzgeberische Aktionen der Kommission und der nationalen Regierungen, um open source Lösungen immer dort eine Präferenz einzuräumen, wo es technisch machbar ist. Eine weitere interessante Initiative könnte darin bestehen, open source Alternativen durch direkte oder indirekte finanzielle Förderung in jenen Bereichen gegenüber proprietären Lösungen zu stärken, wo es (aus strategischen, sozialen oder ökonomischen Gründen) geboten erscheint. Dies würde einen großen Markt für open source Lösungen und Dienstleistungen schaffen, die Fertigkeiten und Qualifikation der Arbeitskräfte im europäischen IT-Sektor ungemein stärken und wahrscheinlich auch die Nützlichkeit der IT-Systeme verbessern. Diese Maßnahmen dürften ebenfalls einen nachprüfbaren Einfluss auf die Import-Export-Bilanz von IT-Produkten haben, die bislang für Europa sehr ungünstig aussieht, weil die Mehrheit der weitverbreiteten Softwaresysteme aus den USA kommen.“ (13) Die „europäische Alternative“ zu Microsoft & Co. ist machbar – und sie wird umso attraktiver, je mehr die soziale, ökologische und demokratische Einbettung und Gestaltung von Informationstechnologien und neuen Medien gelingt.
Anmerkungen
(1) Mitteilung über eine Initiative der Kommission für den Europäischen Sondergipfel von Lissabon am 23./24. März 2000: eEurope. Eine Informationsgesellschaft für alle. E-Europe 2002 – Eine Informationsgesellschaft für alle. Entwurf der Kommission für einen Aktionsplan. Offizielle Infos zu e-Europe gibt es auf dem Website www.ispo.cec.be
(2)vgl. Europa und die globale Informationsgesellschaft – Empfehlungen für den Europäischen Rat, Brüssel, 26.5.1994; und die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Europas Weg in die Informationsgesellschaft – ein Aktionsplan, KOM (1994) 347 endg.
(3) Der Spiegel vom 24.1.2000
(4) Eine Informationsgesellschaft für alle. Abschlußbericht der Gruppe hochrangiger Experten, April 1997. Infos und Texte der Gruppe hochrangiger Experten und des Information Society Forum können über den ISPO-Server der Europäischen Kommission abgerufen werden (www.ispo.cec.be).
(5) Herbert Kubicek: Von der Angebots- zur Nachfrageförderung. Die Medien- und Kommunikationspolitik in und nach der Ära Kohl; Blätter für deutsche und internationale Politik 9/98
(6) Die Schlussfolgerungen des Rates auf dem EU-Sondergipfel in Lissabon zeugen diesbezüglich fast von unfreiwilliger Komik: „Der Europäische Rat richtet einen besonderen Appell an die Sensibilität der Unternehmen bezüglich ihrer sozialen Verantwortung, was beste Praktiken für lebensbegleitendes Lernen, die Arbeitsorganisation, Chancengleichheit, soziale Integration und eine nachhaltige Entwicklung betrifft.“ Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Lissabon, 23. und 24. März 2000
(7) vgl. Reinhard Keil-Slawik u.a./Robin Mason u.a.: Information and Communication Technologies in Education and Training, STOA-Report, 1996
(8) siehe Kubicek 1998 (ebd.); sowie Manuel Kiper/Ingo Ruhmann/Volker Schütte: Arbeit, Arbeitslosigkeit und Umwelt in der Informationsgesellschaft, in: Kommune Juli/August 96; Johann Welsch: Multimedia-Studie zur Beschäftigungswirkung der Telekommunikation, Frankfurt 1997
(9) The Economist, 26.2.2000, „Dotty about E-Commerce?“
(10) Zahlen zu Multimedia-Arbeitszeiten nach internet world 9/98. Ausführlicher zum Themenkomplex „Arbeit“ siehe das Minderheitenvotum von Bündnis 90/Die Grünen „Arbeit 21“ sowie die Sondervoten der PDS-Gruppe und des DPG-Vorsitzenden Kurt van Haaren zum Schlussbericht der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ zum Thema „Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft vom 22.6.1998, BT-Drucksache 13/11004
(11) Ausführlicher hierzu siehe Wolfgang Zängl: Der Telematik-Trick, München 1995
(12) und (13) Free Software/Open Source: Information Society Opportunities for Europe, Dez. 1999