New Europe – New Economy?
Alternativen für ein soziales und ökologisches Europa
Der EU-Sondergipfel in Lissabon Ende März 2000 steht unter dem Motto „Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und sozialer Zusammenhalt – auf dem Weg zu einem Europa der Innovation und des Wissens“. Die europäische Politik verspricht eine auf den ersten Blick überraschende Wende: Vollbeschäftigung soll zum offiziellen Ziel erklärt werden. Darin sind sich sowohl die Europäische Kommission, der derzeitige portugiesische EU-Vorsitz als auch die französische Regierung einig, die Mitte 2000 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.
Vollbeschäftigung soll durch einen policy mix herbeigeführt werden, der insbesondere auf eine gestärkte Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft vor allem im Bereich von E-Commerce und einer Beschleunigung der informationstechnischen Revolution setzt. Europa soll durch weitere Liberalisierungsschritte im Binnenmarkt zur dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt werden. Von den Amerikanern lernen heißt siegen lernen, so lautet die neue Devise. Weil die New Economy der USA vor allem durch den schnellen technologischen Wandel, durch Dienstleistungen, boomende Börsen, expandierende Finanzmärkte und Internet vorangetrieben werde, müsse Europa möglichst schnell nachziehen. „Vollbeschäftigung wie in den USA“ ist damit das implizite Ziel des „neuen Europa“. Das amerikanische Leitbild der Unternehmergesellschaft soll übertragen werden: „Die europäische Wirtschaft muss viel dynamischer werden. Zu viele Märkte sind immer noch zersplittert. Zu wenige mittelständische Betriebe werden weltweit tätig. Es gibt zu wenig Unternehmergeist und zu wenige Unternehmer.“(1)
Die Beschäftigungsbilanz der USA wirkt auf den ersten Blick insgesamt positiver als in Europa. Allerdings zählt die US-Arbeitsmarktstatistik schon eine Beschäftigung von 2 Stunden pro Woche als vollgültige Erwerbstätigkeit. Als erwerbslos gilt nur, wer nachweist, sich in den letzten sieben Tagen vor der entsprechenden Umfrage aktiv um Arbeit bemüht zu haben. 1997 galten in den USA so 7 Millionen Menschen offiziell als arbeitslos – eine Quote von 5,2 %. Würde in Deutschland nach der US-Methode gemessen, so hätte die Erwerbslosenquote in den alten Bundesländern 1997 statt bei über 10 % nur noch bei 7,8 % gelegen. Die Differenz von rund 2,6 % gegenüber Deutschland erklärte sich damals überwiegend durch die unterschiedliche konjunkturelle Entwicklung. Dafür hatten US-Regierung und Notenbank im Gegensatz zu Europa allerdings einiges getan: eine gelockerte Geldpolitik schaffte seit 1992/93 die Rahmenbedingungen für eine Belebung der Wirtschaft. 1994 gaben die USA mit 169 Mrd. US-$ rund fünfmal so viel für Forschung und Entwicklung aus als die Bundesrepublik. Anders als noch in den 80er Jahren entstanden zwei Drittel der neuen Arbeitsplätze in den 90ern im oberen Einkommensbereich. Gerhard Bosch resümiert: „Hier ist das Einkommen geschaffen worden, durch das dann zusätzliche Nachfrage für geringbezahlte Dienstleistungen entstand.“ (2) Die soziale Polarisierung blieb damit jedoch erhalten: auf der einen Seite die hochqualifizierten „Symbolanalytiker“ der innovativen Branchen, auf der anderen Seite eine breite Masse arbeitender Armer, die meist mehrere Jobs ausüben müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen.
Diese grundlegende Struktur einer „dualen Wirtschaft“ will offenbar auch Europa als „Erfolgsmodell“ kopieren: Aufholschlacht bei Internet, e-Commerce und Innovationen, ein breites Angebot an billigen Dienstleistungen durch einen staatlich subventionierten Niedriglohnsektor. Die Hoffnungen auf Wachstum und Technik als Jobmaschine haben sich allerdings schon in der Vergangenheit als Illusion erwiesen – von ihren ökologischen Folgen ganz zu schweigen. Bei e-Commerce ist zwar ein bedeutendes Umsatzwachstum zu erwarten, aber nicht unbedingt eine insgesamt positive Arbeitsplatzbilanz. Elektronischer Handel, der auf private Verbraucher zielt, ist bisher nur bei Büchern, Reisen und Musik einigermaßen erfolgreich. Hier gibt es allerdings einen harten Preiskampf – der traditionelle Buchhandel, gewöhnliche Reisebüros, CD- und Videoläden müssen sich warm anziehen. Bei anderen Produkten „zum Anfassen“ wie z.B. Kleidung, Schuhe, Autos etc. hat e-Commerce die gleichen Schwierigkeiten wie der traditionelle Versandhandel. Trotzdem wird damit gerechnet, dass in den kommenden zehn Jahren aufgrund des Internetvertriebs das jährliche Wachstum des traditionellen Großhandels von 5 % auf 3 % sinken wird – ein Indiz für einen harten Verdrängungswettbewerb, aber nicht für ein Beschäftigungswachstum. Für die Hersteller wird es einfacher, unter Ausschaltung des Zwischenhandels ihre Produkte zu niedrigeren Preisen direkt an die Kundin zu bringen – und das kostet eher Arbeitsplätze.
Beim e-Commerce zwischen Unternehmen (business to business) wird die gesamte Beschaffung auf das Internet verlagert. Wegen der damit verbundenen fast absoluten Kostentransparenz verschärft sich der Preiswettbewerb. Um Kosten zu sparen, werden die Zulieferer eher Stellen abbauen und z.B. Banken Filialen schließen. Da das Internet Preistransparenz auf globalen Märkten erleichtert, wird mit dem Wachstum des „Business-to-Business“ e-Commerce auch die Fusionitis weiter angetrieben: „Moderne Technologien – das Internet – haben aus territorialen Handelsräumen internationale – globale – Märkte gemacht. Auch der europäische Binnenmarkt nimmt jetzt auf einmal Gestalt an. Den Unternehmen bleibt gar nichts anderes übrig als ihre Betriebsgrößen darauf einzustellen. Die Bankenbranche macht erst den Anfang. Viele andere werden folgen. Die nächsten werden die Versicherungen und Transportunternehmen sein. Sie werden sehen, dass die Geschwindigkeit noch zunimmt.“ (3) Auch wenn die EU-Institutionen etwas anderes versprechen – ein „europäisches Jobwunder“ durch Internet und e-Commerce ist wenig wahrscheinlich.
Die Think Tanks des Neoliberalismus beziehen zu diesem forcierten Strukturwandel klar Position: „Deutschland muss den Starken in der Gesellschaft das Leben so auskömmlich machen, dass sie nicht fliehen. Denn das würde die Situation der Schwachen nur noch schwerer machen. Es liegt also im eigenen Interesse der Schwachen, den Strukturwandel nicht zu behindern. Nur so können sie ihre eigene Haut retten.“ (4) Die Europäische Kommission hingegen behauptet, das europäische Sozialmodell retten zu wollen, indem sie es an die „Herausforderungen der Globalisierung“ anpasst. Doch ihre Vorschläge laufen auf einen deutlich abgespeckten Sozialstaat hinaus. (5) Ihre Vorstellung von „Vollbeschäftigung“ vernachlässigt völlig die soziale Seite der Erwerbsarbeit – sinnhafte und angereicherte Tätigkeiten, auskömmliche Einkommen, sozial- und tarifvertragliche Schutzrechte, demokratische Teilhabe am Wirtschaftsgeschehen. Ihr genügt es, wenn Menschen einfach aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden, weil sie z.B. einen Kurzzeitjob, eine Arbeit auf Abruf mit 10 Wochenstunden oder eine prekäre „neue Selbständigkeit“ gefunden haben. Damit springt sie deutlich zu kurz. Aus Sicht der politischen Linken muss sich die Europäische Union zunächst vergewissern, welche Art von Vollbeschäftigung angestrebt werden soll.
Vollbeschäftigung auf Basis egalitärer Erwerbsmuster und nachhaltiger, qualifizierter und sinnvoller Arbeitsplätze
Für die Linke bleibt die Frage, ob es alternative Strategien für Vollbeschäftigung in Europa gibt, die gleichzeitig den Ausbau und die Erneuerung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats europäischer Prägung beinhalten und soziale Polarisierung weitgehend vermeiden.
Die Vollbeschäftigung bis Anfang der 70er Jahre beruhte auf dem damaligen, patriarchalen Normalarbeitsverhältnis. Sie war auf das Leitbild des männlichen Facharbeiters und „Familienernährers“ zugeschnitten. Vollgültiger sozialer Schutz war an starre Standards gebunden: kontinuierliche Erwerbsarbeit zu 40 Wochenstunden über mindestens 40 Jahre bis zur Rente. Besonders Frauen blieb aufgrund der ihnen zugewiesenen Haushalts-, Erziehungs- und Pflegearbeit die volle Teilhabe an der Normalarbeit und der daran geknüpften eigenständigen sozialen Sicherheit verwehrt. Mit dem „Frauenproblem“ der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurde legitimiert, dass viele Frauen in Teilzeitjobs oder in mehr oder weniger prekäre Sonderbeschäftigungsformen abgedrängt wurden. Auch Alleinerziehende oder Personen mit keiner dauerhaften Erwerbsbiografie hatten deutliche Nachteile bei der sozialen Sicherheit. Das alte Vollbeschäftigungsmodell war damit keineswegs emanzipatorisch. Deshalb brauchen wir ein neues, zukunftsfähiges Leitbild der Vollbeschäftigung:
jede arbeitswillige und arbeitsfähige Person muss Zugang zu existenzsichernder Erwerbsarbeit haben, in der sie oder er ihre bzw. seine produktiven Fähigkeiten entwickeln kann;
Erwerbsarbeit und Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit sollen künftig gleichmäßig zwischen Frauen und Männern aufgeteilt werden;
drastisch verkürzte Tages- und Wochenarbeitszeiten (z. B. 6-Stunden-Tag und 30-Stunden-Woche) können große Potentiale für eine durchgreifende Umverteilung der Erwerbsarbeit erschließen;
eine flexible Lebensgestaltung, bei der sich Zeiten der Erwerbstätigkeit mit Phasen von Aus- und Weiterbildung, von Kindererziehung und Pflege, von ehrenamtlichem Engagement oder zeitweiser Selbständigkeit abwechseln, muss durch vollen sozialen Schutz abgesichert werden;
mit Blick auf wachsende ökologische Gefährdungen und die anhaltende technologische Dynamik kann mehr Beschäftigung nicht einfach durch mehr Wirtschaftswachstum erreicht werden, sondern Erwerbsarbeit muss nachhaltiges, dauerhaft umweltverträgliches Wirtschaften fördern.
Rein rechnerisch besteht Vollbeschäftigung, wenn die Zahl der Erwerbslosen die Zahl der offenen Stellen nicht überschreitet und allen Erwerbssuchenden eine reelle Chance auf sinnvolle, existenzsichernde Erwerbsarbeit mit auskömmlichen Einkommen geboten wird. Dieser Zustand kann durch eine beschäftigungspolitische Mehrebenen-Strategie erreicht werden: ein beschäftigungsorientierter Rahmen für die gesamtwirtschaftliche Politik (aktive europäisch koordinierte Geld- und Haushaltspolitik), eine Strategie drastischer Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung der Arbeit zwischen Frauen und Männern, der Ausbau öffentlich geförderter Beschäftigung in zukunftsfähigen Wirtschaftssektoren und sozialen, kulturellen und ökologischen Dienstleistungen sowie eine emanzipatorische Arbeitsmarktpolitik.
Eine Arbeitsmarktpolitik, die die „Beschäftigungsfähigkeit“ stärken will, muss auf den Erwerb umfassender Qualifikationen und lebensbegleitender Weiterbildung ausgerichtet sein, um eine breite Basis an qualifizierten Arbeitskräften für die „Wissens“gesellschaft, für ökoeffiziente, soziale und kulturelle Dienstleistungen zu schaffen. Damit ist eine Absage an Niedriglohnsektor-Strategien und Arbeitspflichtmodelle für „Einfacharbeiten“ verbunden. Denn diese untergraben mittelfristig sogar die Wettbewerbsfähigkeit, in jedem Fall aber die Produktivität und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, ohne die eine dauerhaft tragfähige wirtschaftliche Entwicklung mit Qualitätsproduktion und hochwertigen Dienstleistungen nicht aufrechterhalten werden können.
Natürlich muss sich auch die Linke darüber im Klaren sein, dass gering qualifizierte Arbeit nicht völlig verschwinden wird und auch in Zukunft entsprechende Arbeitsplatzangebote gebraucht werden. Bei den Jugendlichen in der Bundesrepublik liegt der Anteil der Geringqualifizierten derzeit bei rund 10 %. Diese Quote wird sich auch durch noch so viele Qualifikationsangebote kaum mehr drastisch verringern lassen. Doch auf für Geringqualifizierte gilt: Arbeitsplätze lassen sich angereichert und weniger monoton gestalten, voller tarif- und sozialrechtlicher Schutz und existenzsichernde Einkommen sind unabdingbar. Der ökologische Umbau (ökologische Landwirtschaft, Energiegewinnung aus gasifizierter Biomasse, Recyclinghöfe, Forstwirtschaft und Naturschutz) und ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor bieten ein beachtliches Potential für die arbeitsmarktpolitische Integration von Menschen mit geringerer Qualifikation. Der Weg in eine „Dienstbotengesellschaft“ von Tüteneinpackern, Fahrstuhlbegleitern und Kundenbegrüßern ist weder die beste noch die einzige Alternative.
Gesamtwirtschaftliche Politik für Beschäftigung und Zukunftsfähigkeit
Die gesamtwirtschaftliche Politik der EU steht unter dem Vorzeichen einer fortgesetzten Sparpolitik im Gefolge des Stabilitätspakts für den Euro und von „Wirtschaftsreformen“ zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ist deutlich restriktiver als jene der Notenbank der USA. Damit gehen von ihr und von der Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten keine Impulse aus, um die europäische Binnennachfrage zu beleben und den Aufschwung bei den Arbeitsplätzen zu kräftigen. Selbst der renommierte liberale US-Ökonom Paul Krugman hält diese Politik für verfehlt: „Ich finde es besser, man hat eine Inflation von zwei oder drei Prozent und Zinsen von fünf bis sechs Prozent, als wenn man gar keine Inflation hat. Wenn eine Rezession kommt, hat man zumindest noch die Wahl, die Zinsen zu senken. Die USA hatten 1991/92 eine Rezession, in deren Verlauf die Notenbank den Zins um sechs Prozentpunkte senkte – von neun auf drei Prozent. Dass wir heute auf dem Höhepunkt des Aufschwungs praktisch keine Inflation haben, schmälert die Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik. Es ist kaum auszumalen, was jetzt bei einem Börsencrash passieren würde.“ (6)
Das Steuerungspotential der EZB für die europäische Konjunktur ist im Vergleich zu der eher lockeren Geldpolitik der US Federal Reserve deutlich geringer. Dies haben auch die letzten Zinsentscheidungen der EZB gezeigt, die weitgehend folgenlos blieben. Die Kürzungspolitik bei den öffentlichen Finanzen im Rahmen des Stabilitätspakts für den Euro und die überzogene Anti-Inflationspolitik der Europäischen Zentralbank kosten außerdem zusätzlich Arbeitsplätze.
Immer mehr wird deutlich, dass die Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der EU noch zu schwach ausgeprägt ist, um eine beschäftigungsfreundliche Wirtschaftsentwicklung auf breiter Front zu ermöglichen. Deutschland, Italien und Frankreich machen zwar drei Viertel der Wirtschaftskraft der EU aus, doch bisher trägt Frankreich allein die Last, die Konjunkturlokomotive dieses Dreigestirns zu spielen. Die EU braucht deshalb rasche Fortschritte zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik mit entsprechender institutioneller Verankerung (Jacques Delors „Europäische Wirtschaftsregierung“). Nötig ist ein gesamtwirtschaftlicher policy mix und eine wirtschaftspolitische Kooperation zwischen EZB, der Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten und der Lohnpolitik, der eine entspanntere Geldpolitik mit einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik, einer binnenwirtschaftsorientierten Strategie für Nachhaltigkeit und einer Haushaltspolitik kombiniert, die öffentliche Investitionen, Forschung und Bildung sowie die Entwicklung der Humanressourcen stärkt.
Das ökonomische Potenzial der Währungsunion muss für die Verwirklichung einer Beschäftigungs-, Umwelt- und Sozialunion genutzt werden. 11 EU-Staaten bilden jetzt schon eine gemeinsame Währungszone namens Euroland. Drei weitere (Großbritannien, Dänemark, Schweden) könnten jederzeit mitmachen, wenn sie es denn politisch wollten. Griechenland hat gute Chancen, bis 2001 den Beitritt zur Währungsunion zu schaffen. Die gemeinsame Souveränität der Eurozone ist gesamtwirtschaftlich wesentlich stärker, als die jedes europäischen Nationalstaats: Die Außenwirtschaftsabhängigkeit der EU beträgt nur 8 – 10 Prozent. Bei den einzelnen Mitgliedstaaten variiert sie zwischen 25 und rund 53 Prozent. Euroland kann damit der Globalisierungsfalle viel eher entkommen, als jeder europäische Nationalstaat für sich alleine.
Die Wirtschaftspolitik in Euroland könnte sich viel stärker auf die europäische Binnenwirtschaft und Binnennachfrage konzentrieren, ohne negative Folgen wie eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit im Weltmarkt oder einen wachsenden Zustrom „ausländischer“ Exporte fürchten zu müssen. Die Nachfrage der einheimischen Unternehmen und Privathaushalte kann sich bis zu 92 % in Produkte und Dienstleistungen made in Europe umsetzen. Wird der osteuropäische Raum in diese makroökonomische Kooperation einbezogen, so gewinnt Europa tatsächlich jene wirtschaftspolitische Souveränität zurück, die seine Nationalstaaten im Zuge neoliberaler Globalisierungsstrategien zu einem guten Teil verloren haben.
Europa könnte sich deshalb mit einer binnenwirtschaftsorientierten Industrie-, Struktur-, Umwelt-, Beschäftigungspolitik auf einen ökologisch tragfähigen Entwicklungspfad begeben. Im Zentrum steht dabei eine moderne Regionalisierungspolitik zur Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und des ökologischen Wirtschaftens. Nachhaltige Regionalisierungspolitik zielt auf einen höheren regionalen Beitrag der Versorgung mit Energie, Lebensmitteln, Freizeit, Kultur, Tourismus, Verkehr etc. Sie stellt neue Kooperations- und Finanzierungsbeziehungen zwischen öffentlicher Wirtschaft, Privatunternehmen und einem gestärkten Sektor zwischen Markt und Staat her.
Die EU könnte die Unternehmens- und Vermögensbesteuerung harmonisieren, mit einem föderalen Finanzausgleich die Handlungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates wiederherstellen und Einkommens- und Entwicklungsunterschiede einebnen. Euroland bietet sogar das Potenzial für eine gleichgerichtete, aktive Haushaltspolitik all seiner Mitgliedstaaten als Alternative zur Sparpolitik der neoliberalen Ära. Jeder von der öffentlichen Hand einigermaßen klug investierte Euro zieht wegen der Größe des europäischen Binnenmarkts etwa 3 € an privaten Investitionen und Konsumentenausgaben nach sich. Die öffentlichen Investitionen wären damit bei einem durchschnittlichen effektiven Steuerniveau von 30 % weitgehend selbstfinanzierend. (7) Die expansive Haushaltspolitik kann in mittlerer Sicht also ohne neue Verschuldung gestaltet werden.
Dies setzt voraus, dass kreditfinanzierte öffentliche Investitionen so angelegt werden, dass möglichst lange Wertschöpfungs- und Einkommensentstehungsketten geschaffen werden. Auch hierfür sind intelligente Regionalisierungsstrategien eben eine wichtige Voraussetzung. Das DIW hat am Beispiel der Stadterneuerung positive Potentiale einer solchen Strategie aufgezeigt: „Alle zur Sanierung eingesetzten öffentlichen Mittel regen das 1,8fache an privaten Investitionen an. Rein rechnerisch stehen jeder D-Mark, die Bund und Länder im Städtebauförderungsprogramm finanzieren, 5,80 DM private Investitionen gegenüber.“ (DIW-Wochenbericht 16/96) Diese sogenannten „Multiplikatoreffekte“ stärken im Zeitverlauf die Steuerbasis. Dadurch kann der Staat die investierten Fördermittel – bei Kreditfinanzierung auch samt Zins und Tilgung – wieder hereinholen.
Ähnliches gilt für eine staatlich geförderte Sonnenstrategie. Öffentliche Gebäude könnten mit Hilfe von Kreditprogrammen mit Solarkollektoren und Photovoltaik, mit Biogasanlagen in Kraft-Wärme-Kopplung zur Erzeugung von Strom und Heizenergie oder mit einer optimierten Wärmedämmung ausgestattet werden. Diese Investitionen würden sich im Zeitverlauf über die drastisch eingesparte Energie und den Verkauf nicht benötigter Elektrizität möglicherweise amortisieren. Auch Investitionen in Forschung und Bildung können künftige Erträge bringen, die durch eine gestärkte produktive Basis der Wirtschaft die Fördermittel wieder einspielen. Eine solche Politik kreditfinanzierter öffentlicher Investitionen kann sich mittelfristig zumindest als kostenneutral erweisen.
Sie stehen nicht im Gegensatz zu einer Politik zum Abbau der staatlichen Gesamtverschuldung. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Verschuldung mittelfristig durch eine Besteuerung hoher Einkommen, explodierender Unternehmensgewinne und Vermögen gemäß ihrer wachsenden ökonomischen Leistungsfähigkeit zurückgeführt wird und die damit wachsenden Handlungsspielräume der Haushaltspolitik auch verstärkt für Qualifizierung und Beschäftigung eingesetzt werden, statt eine ziellose allgemeine Steuersenkungspolitik einzuleiten. Um Investitionen und die Einkommensentstehung in der Realwirtschaft zu fördern, muss die spekulative Anlage auf den Finanzmärkten durch entsprechende steuerliche Anreize (Tobin-Steuer, Börsenumsatzsteuer) eingeschränkt werden. Die Auswirkungen der Einkommensumverteilung von den Vermögen und Haushalten mit hohen Einkommen hin zu den Haushalten mit niedrigen Einkommen wirken sich zudem positiv auf die Nachfrage (nach umweltverträglich hergestellten und langlebigen Produkten) aus. Sie sind damit keineswegs „wirtschaftsfeindlich“, sondern stabilisieren die Absatzerwartungen von Industrie und Dienstleistern als auch die Beschäftigung. (8) Ohnehin sei auch daran erinnert, dass ein wesentlicher und auf sozial gesicherte, existenzsischernde Arbeitsplätze gestützter Rückgang der Arbeitslosigkeit umfangreiche gleichermaßen gesamt- wie betriebswirtschaftliche Entlastungen sowie positive Nachfrageeffekte bedeuten würde.
Ein europäischer Beitrag zur Finanzierung nachhaltiger Beschäftigung
Noch beim informellen EU-Gipfel in Pörtschach 1998 diskutierten die EU-Wirtschafts- und Finanzminister über neue Finanzierungsinstrumente für die europäische Beschäftigungspolitik. Zur Debatte stand einerseits der ursprüngliche Vorschlag von Jacques Delors, das Kreditgewährungsvolumen des Europäischen Investitionsfonds auf 60 Mrd. € durch die Ausgabe von Eurobonds auszuweiten. Die Einhaltung der Maastricht-Kriterien zur Budgetpolitik würde davon nicht berührt. Die italienische Regierung brachte damals die Idee ins Spiel, sukzessive die Währungsreserven der nationalen Zentralbanken, die von der EZB nicht benötigt werden, für Beschäftigungsprojekte einzusetzen. Internationale Studien schätzen das Gesamtvolumen dieser Überschussreserven auf rund 90 Mrd. US $. Weiterhin wurde diskutiert, die Kreditgewährungskapazität der Europäischen Investitionsbank, die bisher vor allem Beschäftigung in innovativen KMU, im Umweltschutz, Bildung, Gesundheitswesen und in der Stadterneuerung fördert, auf 20 Mrd. € auszudehnen.
Diese Überlegungen sollten für einen europäischen Beitrag (10-Jahres-Programm) zur Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze und zugunsten einer breiten Qualifizierungsoffensive wieder aufgegriffen werden. Die Qualifizierungsoffensive zielt darauf, kurz- bis mittelfristig die offenen Stellen im IT-Sektor der europäischen Wirtschaft zu besetzen und den Fachkräftemangel in verschiedenen anderen Branchen zu beheben. Weiterhin gilt es, das Qualifikationsniveau auch im Dienstleistungssektor zu verbessern. Wer nicht will, dass es gute und sehr schlechte Bildungsangebote oder gute und schlechte Pflegedienste gibt, die die Grundversorgung der Bevölkerung dann entlang unterschiedlicher Kaufkraft bereitstellen, muss auf Dienstleistungen mit einem hohen Qualifikationsniveau setzen. „Eine wachsende Lohnspreizung und die damit einhergehende soziale Polarisierung werden die Anreize zur Qualifizierung bei Unternehmen und Beschäftigten vermindern, das Innovationstempo und den künftigen Wohlstand verringern sowie den sozialen Zusammenhalt gefährden“, schreibt der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch. (9) Auch für Unternehmen sind Investitionen in hochwertige Dienstleistungen mit qualifiziertem Personal durchaus lohnend, wie das Wachstum z. B. in der Rechts- und Unternehmensberatung, dem Qualitätsmanagement usw. zeigen.
Darüberhinaus müssten die gestärkten Finanzierungsfaszilitäten dafür genutzt werden, qualifizierte, tarifvertraglich und sozialversicherungsrechtlich gesicherte Arbeitsplätze im Dritten Sektor, durch den Ausbau der Schiene im Regionalverkehr und eine Stärkung des ÖPNV, im Bereich Energieeinsparung und erneuerbare Energien, nicht-kommerzielle und öffentlich-rechtliche Angebote in Multimedia- und Informationsnetzwerken, in Umweltschutz, Stadterneuerung, Bildung, Erziehung und Kinderbetreuung, Gesundheitswesen und Sozial- und Kulturwirtschaft aufzubauen. Stabile neue Beschäftigungsfelder werden so mit dem ökologischen und sozialen Umbau der Industriegesellschaft verbunden.
Innovation für ein zukunftsfähiges Europa
Informationstechnologie und Internetökonomie kennzeichnet eine Entkoppelung von Umsatz- und Beschäftigungswachstum. Viele empirische Studien gehen per Saldo von sehr geringen Beschäftigungszuwächsen oder sogar einer negativen Arbeitsplatzbilanz in diesem Sektor aus. (10) Wer wie die Kommission auf e-Europe als Jobmaschine setzt, kann genauso gut an den Weihnachtsmann glauben. Das gleiche gilt für die Bilanz der Gentechnologie.
Moderne Innovationspolitik muss die „Informationsgesellschaft“ hingegen demokratisch und zukunftsfähig gestalten. Das erfordert zunächst eine „grüne Informationstechnik“ und einen Blick für Softwareökologie – weniger Giftstoffe bei der Herstellung und in den Produkten, reparaturfreundliche und recyclingfähige Materialien, weniger speicherfressende Software, längere Produktlebenszyklen etc. Denn der Computer hat bekanntermassen einen noch viel größeren „ökologischen Rucksack“ als das Auto. Die „Internetrevolution“ muss nachfragegesteuert organisiert werden – denn „ohne Kaufkraft rechnet sich die Informationsgesellschaft nicht.“ (Jeremy Rifkin, 11) Damit sind wir beim Ziel einer demokratischen und sozialen Informationsgesellschaft mit einem Schwerpunkt auf öffentlich-rechtlich oder nicht-kommerziell strukturierten Informationsdiensten und -netzen, mit einer gut ausgebauten Infrastruktur öffentlich zugänglicher Multimediakioske u.ä. Die breite Vermittlung von Medienkompetenz zur Nutzung dieser Angebote und der breite Zugang zu Informationen von öffentlichem Interesse erfordert dauerhafte Investitionen in Milliardenhöhe – im Bildungssystem und in der öffentlichen Infrastruktur. (12) Sollen die Menschen in Europa die neuen Angebote kompetent nutzen und demokratisch mitgestalten können, so sind motivations- und kaufkraftsteigernde höhere Löhne und Umverteilungspolitiken gefragt, um diesen Prozess erfolgreich zu organisieren. Auch eine demokratische und soziale Informationsgesellschaft wird allerdings kaum zu einem massiven Rückgang der Erwerbslosigkeit führen.
Da sieht es in anderen Innovationsfeldern schon günstiger aus – etwa wenn statt Gentechnik sanfte Biotechnologien wie ökologische Werkstoffe, Bionik und Ethnobotanik (pharmazeutische Industrie) gefördert würden. Moderne Innovationspolitik muss sich vom Leitbild einer wachstums- und angebotsorientierten Technik lösen und die umweltschonende Nutzung natürlicher Ressourcen in Produktion und Konsum, den Abbau ökologischer und gesundheitlicher Belastungen und Risiken, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Bezug auf Qualifikation, Gesundheit und Kreativität in den Blick nehmen, damit sinnvolle und zukunftsfähige Arbeitsplätze entstehen können. Hermann Scheers Vision einer „solaren Weltwirtschaft“ liefert zahlreiche nützliche Beispiele für Produkt- und Strukturinnovationen dieser Art – von einer neuartigen Pflanzenchemie über die Energieerzeugung aus gasifizierter Biomasse bis hin zu solarstrombetriebenen Geräten der Konsumgüterelektronik. (13) Der damit verbundene ökologische Umbau der Industriegesellschaft hat eine äußerst positive Arbeitsplatzbilanz: 500 000 neue Arbeitsplätze durch eine Energiewende, 600 000 durch eine Verkehrswende allein in Deutschland! (14)
Europäische Politik gegen Sozialdumping und für sozialpolitische Konvergenzziele
Die nötige Modernisierung des Sozialschutzes in Europa darf nicht zum Abbau der sozialen Sicherungssysteme führen. Vielmehr geht es um eine umfassende Erneuerung des europäischen Sozialmodells und die Stärkung der nationalen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten. Das soziale Europa braucht deshalb zweierlei: einen neuen institutionellen Mechanismus zur Verhinderung von Sozialdumping und eine gemeinschaftliche Politik für sozialpolitische Konvergenzziele.
Der Osnabrücker Wissenschaftler Klaus Busch hat für die erste Aufgabe ein Modell von Sozialpolitik-Korridoren entwickelt. (15) Der einnehmende Vorteil dieses Vorschlags besteht darin, dass dafür keine langwierige und daher unrealistische Harmonisierung der Sozialsysteme der Mitgliedstaaten erforderlich ist. Die Korridore geben einen Rahmen vor, innerhalb dessen die soziale Sicherheit der entsprechenden Mitgliedstaaten sich weiterentwickelt. Für jeden Mitgliedstaat würde nach einem einheitlichen europäischen Verfahren eine Sozialleistungsquote ermittelt (z.B. Anteil aller Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt). Fällt die Sozialleistungsquote eines Mitgliedstaates in den Folgejahren gegenüber dem Ausgangswert ab, so hätte dies ein Konsultationsverfahren auf europäischer Ebene zur Folge. Dort müsste der betroffene Mitgliedstaat einen Maßnahmenplan vorlegen, um die ursprüngliche Sozialleistungsquote wieder herzustellen, gegebenenfalls mit Unterstützung des EU-Haushalts. So würde zumindest jeder Anpassungsdruck nach unten vermieden.
Dieser Mechanismus könnte auch dazu genutzt werden, um Mehrjahresprogramme zur Verbesserung der sozialen Sicherheit (z.B. gemessen in einer Steigerung der Sozialleistungsquote mindestens im Umfang des Wachstums des Bruttosozialprodukts) verbindlich zu verabreden und zu überwachen. Darüberhinaus ist es sinnvoll, spezifische Konvergenzziele mit quantitativen und qualitativen Vorgaben für die Sozialpolitik zu formulieren. Die portugiesische Ratspräsidentschaft hat in ihrem Papier für den EU-Gipfel in Lissabon z.B. vorgeschlagen, die Überwindung der Kinderarmut in Europa bis zum Jahr 2010 als Ziel der europäischen und nationalstaatlichen Politik verbindlich festzuschreiben. Ähnliche Konvergenzziele könnten auch für andere Bereiche der Sozialpolitik formuliert werden (z.B. im Bereich des Gesundheitsschutzes oder zur schrittweisen Annäherung der Sozialeinkommen an die EU-Armutsschwelle von 50 % des Durchschnittseinkommens). Insgesamt würde eine solche Politik wirksam dazu beitragen, sozialpolitischen Zielen in der Europäischen Union Nachdruck zu verleihen.
Den Begriff der „New Economy“ gilt es anders beim Wort zu nehmen: eine neue Wirtschaft, die Internet und „Informationsgesellschaft“ demokratisch an die Bürgerinnen und Bürger rückbindet (Vorrang für freie Software und open source Programme, Verhinderung neuer sozialer Spaltung in information poor und information rich, breite Qualifizierungsoffensive, gestärkte Rolle des öffentlichen und Non-Profit-Sektors bei der Bereitstellung von hochwertigen Informations- und Bildungsinhalten etc.), die ökoeffiziente und qualifizierte soziale, wirtschaftliche und kulturelle Dienstleistungen ausbaut, Innovation auf zukunftsfähige Felder ausrichtet und damit die Voraussetzungen für eine egalitäre Einkommensverteilung, für Motivation und Innovation erhält. Die Perspektive der EU auf dem Weg zu neuer Vollbeschäftigung liegt weniger im Abkupfern vom US-Modell, sondern in einem eigenständigen Weg bei der Gestaltung einer Sozial-, Umwelt- und Beschäftigungsunion.
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(1) Der Europäische Rat von Lissabon. Eine Agenda für die wirtschaftliche und soziale Erneuerung Europas. Beitrag der Europäischen Kommission zur Sondertagung des Europäischen Rates am 23. und 24. März 2000 in Lissabon, Brüssel, den 28. Februar 2000, S. 8
(2) Gerhard Bosch: Billig ist nicht immer gut; in: Die Zeit vom 8.1.1998
(3) „Das deutsche Modell wird nicht überleben“, Tagesspiegel Interview mit dem Präsidenten des HWWA-Instituts Thomas Straubhaar; 13.3.2000
(4) ebenda
(5) Für eine ausführlichere Analyse der EU-Diskussion rund um den Lissaboner EU-Gipfel siehe André Brie/Klaus Dräger: Vorwärts zur Vollbeschäftigung?; Teil 1 in Freitag vom 10.3.2000, Teil 2 in Freitag vom 17.3.2000
(6) Interview mit Paul Krugman: Wim Duisenberg ist nicht der richtige Mann für Europa, Der Tagesspiegel, 7.12.1998
(7) siehe Gunther Tichy: Macroeconomic Employment Policies – Employment Problems from Lack of Policy Coordination within the EU, Wien 1998, Manuskript; sowie Jan Priewe: Makroökonomische Politik für mehr Beschäftigung. Eine Skizze für eine europäische Alternative, WSI-Mitteilungen 3/99. Eine ähnliche Rechnung machen Hansjörg Herr und Michael Heine auf: Bei einer marginalen Konsumneigung von 0,8 (das entspricht 80 %) und einer marginalen Importneigung von 0,5 (entspricht 50 % wie z.B. im Falle Dänemarks mit einer Außenwirtschaftsabhängigkeit von 47,2 %) beträgt der Gütermultiplikator rund 1,4. Sinkt die marginale Importneigung auf 10 Prozent (wie dies bezogen auf Euroland der Fall ist), dann steigt der Gütermultiplikator auf 3,3. vgl. Hansjörg Herr/Michael Heine: Verdrängte Risiken der Euro-Einführung, WSI-Mitteilungen 8/99
(8) Wirtschaftstheoretisch stützt sich diese Argumentation auf das Haavelmo-Theorem vom balanced budget multiplier. Der norwegische Wirtschaftsnobelpreisträger Haavelmo hatte 1945 modelltheoretisch nachgewiesen, dass durch erhöhte direkte Steuern auf Einkommen und Vermögen positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte erzielt werden können. Sofern die privaten Haushalte die Steuern nicht rückwälzen können, ergibt sich im makroökonomischen Modell, dass das Sozialprodukt im gleichen Umfang wächst (Faktor eins), wie der Staat die zusätzlichen Einnahmen verausgabt. Steuermehreinnahmen von z.B. 10 Mrd. € würden in eine Erhöhung des Produktionsvolumens um 10 Mrd. € umgesetzt. Der staatliche Transfer von den Haushalten mit hohen Einkommen zu den Haushalten mit niedrigen Einkommen stabilisiert oder erhöht die Massennachfrage und sorgt so für den Absatz des erhöhten Produktionsvolumens. Weil die Haushalte mit hohen Einkommen eine geringere marginale Konsumneigung als die Haushalte mit niedrigen Einkommen haben, wirkt die stärkere Besteuerung der hohen Einkommen nicht dämpfend auf die Gesamtnachfrage. Havelmoo hat vielmehr gezeigt, dass die durchschnittliche Konsumneigung aller Haushalte mit Umverteilung höher ist als ohne Umverteilung.
(9) Gerhard Bosch: Niedriglöhne oder Innovation – Überlegungen zur Zukunft der Arbeit, WSI-Mitteilungen 12/99
(10) Gerhard Bosch: Auswirkungen der neuen Informationstechnologien auf die Beschäftigung, WSI-Mitteilungen 3/97; J. Welsch: Multimedia Studie zur Beschäftigungswirkung der Telekommunikation, Frankfurt/Main 1997
(11) Newsweek, 24.4.1995
(12) Herbert Kubicek: Von der Angebots- zur Nachfrageförderung. Die Medien- und Kommunikationspolitik in und nach der Ära Kohl, Blätter für deutsche und internationale Politik 9/98
(13) Hermann Scheer: Solare Weltwirtschaft, Strategien für eine ökologische Moderne, Verlag Antje Kunstmann, 1999
(14) Andreas Kleinsteuber: Ende der Arbeit – Anfang der Ökologie?, Blätter für deutsche und internationale Politik 6/99. Zahlreiche weitere Beispiele für den positiven Beschäftigungseffekt des ökologischen Umbaus präsentiert das DGB-Positionspapier „Arbeit und Umwelt – Ein Beitrag zur ökologischen Modernisierung und zur Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze“, WSI-Mitteilungen 9/99
(15) Klaus Busch: Europäische Sozialpolitik Das Korridor-Modell. Vorstudie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Osnabrück 1997