Zur Einberufung der Regierungskonferenz
Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann am 2.2.00 in Brüssel
Man kann es gar nicht oft und laut genug sagen: Was der Rat als Tagesordnung für die Regierungskonferenz beschlossen hat, ist politisch nicht nur völlig inakzeptabel, ja es ist geradezu beschämend. In dieser historischen Situation, jetzt, da mit nunmehr 12 weiteren Staaten Verhandlungen geführt werden bzw. demnächst aufgenommen werden sollen und ein Zusammenwachsen Europas in überschaubaren Zeiten Wirklichkeit werden soll, gleicht es geradezu einer Groteske, was der Rat da vor hat. Wie – bitte schön – soll die Union denn erweitert werden, wenn nicht jetzt, und zwar vor der Erweiterung, Nägel mit Köpfen gemacht werden?
Meine Fraktion – Herr Ratspräsident – nimmt mit Genugtuung und Interesse zur Kenntnis, dass die Ratspräsidentschaft mit der gegenwärtigen Situation nicht zufrieden ist und sich für eine deutliche Erweiterung der Tagesordnung ausspricht. Deshalb seien Sie versichert, dass sich auch die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/ Nordische Grüne Linke dafür engagieren wird, dass die Union endlich ihre Hausaufgaben erledigt.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft Europas.
Es geht um ein Europa, das die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich als das Ihre begreifen, weil sie es mitgestalten können und weil die Sorgen und Nöte, die Probleme und die Fragen, die sie tagtäglich bewegen, von der Politik wirklich ernst genommen werden.
Politik der verschlossenen Türen, Beratungen im stillen Kämmerlein – all das muss ein für alle mal der Vergangenheit angehören. Sorgen Sie für Transparenz. Sorgen Sie dafür, dass der Zug nicht so weiter rollt wie bisher und die Menschen wie Vertragsanalphabeten auf den Bahnsteigen zurückgelassen werden.
Wir halten es für unverzichtbar, dass nicht nur alles getan wird, um die Bürgerinnen und Bürger über den Verlauf und die Ergebnisse umfassend zu informieren. Sie müssen vielmehr in den gesamten Reformprozess direkt einbezogen werden. Die politischen Entscheidungsträger müssen endlich über ihren Schatten springen und die Bürgerinnen und Bürger nach Abschluss der Regierungskonferenz in Referenden fragen, ob sie damit einverstanden sind, wie sich ihr Europa künftig weiterentwickeln wird. So hätten wir in der Tat ein Europa der Bürgerinnen und Bürger. Das würde der demokratischen Legitimation der Union eine völlig neue Qualität verleihen.
Ich will eine andere zentrale Demokratie-Frage deutlich ansprechen. Als Mitglied des Konvents, das seine Arbeit an der Grundrechte-Charta nunmehr aufgenommen hat, will ich klar sagen. Mir und meiner Fraktion reicht eine feierliche Verkündung der Charta nicht. Was werden wohl die Bürgerinnen und Bürger sagen, wenn ihnen Rechte feierlich verkündet werden, sie diese aber nicht individuell einklagen können? Nein. Ich denke, das würde die Glaubwürdigkeitskrise der Union nur noch weiter vertiefen.
Die geringe Beteiligung bei den Europawahlen sollte allen wirklich Alarmsignal genug sein. Was wir brauchen, sind für jede und jeden sichtbare Rechte. Die Grundrechtecharta muss rechtsverbindlich werden für alle Menschen, die in der Union leben, für all ihre Bürgerinnen und Bürger. Auf dieses Ziel hin sollten wir im Interesse der Bürgerinnen und Bürger gemeinsam arbeiten. Ich erwarte von der Regierungskonferenz, dass hier am Ende des Jahres die diesbezügliche Entscheidung von Köln revidiert wird.
Natürlich geht es auch um Effizienz von Entscheidungen und funktionierende Institutionen in einer Union der 27 oder mehr Mitgliedstaaten. Nur mit einem Mini-Reförmchen, wie der Rat es beschlossen hat, wird das nicht zu haben sein.
Deshalb müssen alle Institutionen auf den Prüfstand. Wir brauchen mutige Veränderungen und müssen dabei – der Gleichberechtigung der Staaten, der grossen und kleinen grösste Aufmerksamkeit schenken. Dies betone ich insbesondere auch als Abgeordnete eines grossen Mitgliedstaates. Ich möchte mich bei der Kommission für die in der letzten Woche vorgelegten Vorschläge der Reform der EU-lnstitutionen bedanken. Sie sind eine interessante Anregung und werden die weiteren Diskussionen nicht nur in diesem Hause sicher bereichern.
In der Stellungnahme des Parlaments werden ausdrücklich Veränderungen des Vertrages auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik eingefordert. In der Tat: die Globalisierung der Volkswirtschaften, vor allem aber die Einführung des Euro und der mit ihm verbundene Stabilitätspakt machen es notwendig, nicht nur Entscheidungsprozesse zu hinterfragen.
Nötig ist vor allem Mut zur kritischen Überprüfung der bisherigen Politiken der Union. Ein sozial gerechtes Europa ist unverändert hochaktuell. Dazu gehört in erster Linie, den Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit und Armut endlich in den Mittelpunkt der Politik der Union zu stellen. Dazu gehört dann auch die Courage, Artikel 4 des EG-Vertrages zu ändern, der die Union in klassisch neoliberaler Manier als „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ definiert. Dazu gehört ebenso Artikel 105 des EG-Vertrages. Die Europäische Zentralbank muss endlich den vertraglich fixierten politischen Auftrag erhalten, mit ihrer Geldpolitik nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung zu fördern.