OSZE bleibt einzige Alternative zum militärischen Abenteurertum in Europa

Zum 25. Jahrestag der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki erklärt André Brie am 31.07.00 in Berlin

Mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 verfolgten die beteiligten Staaten unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Ziele. Einige grundlegende Einschätzungen, Interessen und Absichten waren aber selbst den Mitgliedsländern der beiden sich konfrontativ und hochgerüstet gegenüberstehenden Militärblöcke damals gemeinsam. Sie ermöglichten eine Übereinkunft, die geschichtlich einzigartig ist.

Erstens begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Sicherheit nicht mehr einseitig, konfrontativ und militärisch gewährleistet werden kann, sondern gemeinsam, kooperativ und politisch gesichert werden muss. Zweitens wurde die Ächtung von Krieg und Gewalt, wie sie bereits in der UNO-Charta verankert worden war, in bemerkenswerter Weise konkretisiert. Selbst das „Geltendmachen von Erwägungen zur Rechtfertigung eines gegen dieses Prinzip verstoßenden Rückgriffs auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt“ wurde für unzulässig erklärt. Es muss nicht daraufhin gewiesen werden, dass vor allem die NATO, aber auch Russland in den vergangenen Jahren diese Festlegung massiv missachtet haben. Drittens wurden jene Völkerrechtsprinzipien, die für die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit von besonderer Bedeutung waren und sind, politisch ausgestaltet – die souveräne Gleichheit der Staaten, die Achtung ihrer territorialen Integrität und insbesondere der Unverletzlichkeit der Grenzen, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.

In zahlreichen anderen Fragen wurden zum Teil scheinbar gemeinsame Positionen vereinbart, die aber grundsätzliche Differenzen nicht einmal notdürftig verschleierten. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten setzten beispielsweise radikale Abrüstungsformulierungen durch (einschließlich des Ziels der allgemeinen und vollständigen Abrüstung), der Westen eine Menschenrechtsorientierung, die für die staatssozialistischen Länder zu einer uneinlösbaren Herausforderung wurde. Wenn nach 1990 aus sozialdemokratischer und konservativer aber auch aus orthodox kommunistischer Sicht der KSZE-Prozess zum Wegbereiter für den Zusammenbruch des osteuropäischen Staatssozialismus erklärt wurde, so wird das entscheidende Problem der osteuropäischen Gesellschaften ignoriert. Sie waren nicht nur nicht bereit, sich international und gesellschaftlich zu öffnen und demokratischen Pluralismus und die Gewährleistung politischer Freiheitsrechte umfassend zu entwickeln, sondern dazu unfähig. Die stalinistischen und nachstalinistischen Prägungen waren nach der gewaltsamen Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbemühungen nur noch durch den gesellschaftlichen Kollaps überwindbar. Nicht die Einwirkung von Außen oder ein angeblicher Revisionismus und die Zugeständnisse an den Westen, sondern diese Demokratieunfähigkeit war zur entscheidenden Ursache für die gesellschaftliche Stagnation und im übrigen auch für das wirtschaftliche und technische Zurückfallen der osteuropäischen Staaten geworden.

Der KSZE-bzw. OSZE-Prozess erreichte mit der Charta von Paris 1990 sowie mit den parallelen Vereinbarungen zur konventionellen Abrüstung in Europa noch einmal eine denkwürdige Weiterentwicklung. Mit der Auflösung des Warschauer Vertrages und der Sowjetunion ging jedoch der Zwang zu Frieden und gemeinsamer Sicherheit für den Westen verloren. Das Gleichgewicht des Schreckens war eine bedrohliche Grundlage dafür gewesen und hätte schrittweise einem kollektiven und entmilitarisierten Sicherheitssystem weichen müssen, aber es war immerhin eine. NATO und Europäische Union sind offensichtlich in keiner Weise bereit, ohne äußeren Zwang entmilitarisierte internationale Beziehungen anzustreben. Die Festlegungen der Schlussakte von Helsinki und anderer KSZE- und OSZE-Vereinbarungen werden inzwischen insbesondere von der NATO offen und massiv verletzt. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist von den USA und ihren Verbündeten aus dem Zentrum und an den Rand europäischer Sicherheitspolitik gedrängt worden. Sie hat dies mit der Erklärung ihres Istanbuler Gipfels vom 19. November 1999 faktisch selbst abgesegnet. Die NATO und der gegenwärtig entstehende zusätzliche westeuropäische Militärblock maßen sich unter Verletzung der UNO-Charta und der KSZE-Übereinkünfte die Rolle der europäischen Sicherheitsinstitutionen und selbst das Recht auf Gewalt und Krieg, die Missachtung von staatlicher Souveränität und territorialer Integrität und die gewaltsame Änderung europäischer Grenzen an.

Auch wenn die KSZE ein Kind des kalten Krieges war, sie wies und weist mit ihren Ansprüchen, Sicherheit und Staatenbeziehungen nichtmilitärisch und kooperativ zu gestalten sowie die universellen Menschen- und Minderheitenrechte durchzusetzen, weit in die Zukunft. Die allerdings ist akut gefährdet. 25 Jahre nach Helsinki gibt es in Europa immer mehr sicherheitspolitische Anachronismen, die Umwandlung der Europäischen Union in eine Militärunion gehört zu den bedrohlichsten. Die OSZE ist gegenwärtig nur noch ein Schatten ihrer selbst, aber sie bleibt die einzige Alternative zum militärischen Abenteurertum in Europa.